10
Aug
2012

Meine Unbekannte. Von Thomas Kobbe.

„Das ist eindeutig ein Zehner. Perfekt. Mögen sie auch probieren?." Die Frau, die gerade den Inhalt des länglichen Zuckertütchens in die kleine, dickwandige Tasse geschüttet, umgerührt und den ersten Schluck probiert hatte, sah mich an. „Ich habe mir angewöhnt, zu bewerten, was der Barista so fabriziert. Crema, Stärke, Menge, Aroma“, sagte sie. Auf einer Skala von 1 bis 10. „Ich nehme hier jeden Morgen einen. Und immer schmeck er anders.“
Anscheinend gehörte sie wie ich zu der Gruppe der Büfettfrühstücks-Flüchtlinge, denen es zuwider war, ausgerechnet in Italien Filterkaffee zu trinken. Doch hier hatte ich sie noch nie gesehen.

Wie schon so oft war ich an einem Freitagabend am Gardasee angekommen, hatte die Kanzlei erst spät am Nachmittag verlassen und auf der 800 Kilometer langen Strecke nach Torri del Benaco nur einen Tankstopp eingelegt. Es war viertel nach Elf, als ich in der Pension Speranza eintraf. Die Inhaberin hatte mir ein Zimmer im ruhigeren Nebengebäude gegeben. Ich hatte meinen Koffer ausgepackt und das Notebook angeschlossen. Im Postfach fand ich die Mail eines gemobbten Mandanten, der mich um eine Einschätzung des neuesten Friedensangebots seines Arbeitsgebers bat. 20.000 Euro Abfindung für 15 Jahre im Betrieb und ein wohlwollendes Zwischenzeugnis. Ich überlegte nicht lange und schrieb zurück: „Wenn Sie das annehmen, signalisieren Sie nur eines: Arschwackeln auf dem Unternehmerstrich“. Ich formulierte noch einen Entwurf für die Kündigungsschutzklage und legte mich schlafen.

Nach einer kurzen Nacht war ich am Morgen in die kleine Bar am Sporthafen gegangen, die der Skaligerburg gegenüber lag. Ich wollte wieder einmal das kurze Vergnügen genießen, mich neben den Dorfpolizisten und meinem Freund Alessandro, dem Hafenmeister, ein bisschen einheimisch zu fühlen. Statt aber den Carabinieri zu lauschen, die in landestypischer Lautstärke Ursachen des „Disastro italiano“ erörterten, eine 0-3-Niederlage gegen die Niederländer, oder mich mit Alessandro zu unterhalten, der früher als Ausländer-Obmann mit mir im Opel-Betriebsrat gesessen hatte, seit einigen Jahren aber überforderten Freizeitkapitänen beim Anlegen half, musste ich mich plötzlich konzentrieren. Auf eine Frau an meiner Seite.

„Die Geschmacksunterschiede haben mit dem Wetter zu tun“, erklärte ich ihr und sprach von Luftdruck, Feuchtigkeit und Gewitterneigung. „Ich komme seit 17 Jahren hierher. Das spezielle Mikroklima am Gardasee beeinflusst einfach alles“. Das hätte ich mir besser verkniffen, dachte ich plötzlich. Sonst hält sie mich noch für einen migräneanfälligen Erdkundelehrer aus Bremen. Selbst Alessandro hat anfangs gedacht, ich sei mehr mit Klassenarbeiten als mit dem Klassenkampf beschäftigt. Das hatte unserer Freundschaft aber ebenso wenig im Weg gestanden wie mein Talent, mich unangemessen zu kleiden. Alessandro hatte mich bei meinem ersten Besuch in seinem Heimatort mit geradezu patriotischem Eifer darauf hingewiesen, so als wollte er seinen Landsleuten meinen Anblick ersparen. „Compagno, hast du schon mal eine Italiener gesehen, der mit Cordhosen, diese Trekking-Sandalen und einem, wie sagt man, Studiosus-Rucksack, durch die Strassen läuft?" Also war ich dann ihm und seiner Empfehlung gefolgt und hatte mich in der Via Cairoli neu einkleiden lassen. Im Geschäft gleich nebenan gab es auch einen Rucksack-Ersatz aus Kalbsleder. Die schwarze Aktentasche fasst bis heute vieles von dem, was ich zum Arbeiten und zum Leben brauche: die beiden Standardkommentare zum Betriebsverfassungsgesetz, die Umlaufmappe für die Prozessunterlagen, meine Robe, Zigaretten, den Insulin-Pen und einen Süßstoff-Spender, denn in den Cafeterien der Arbeitsgerichte gibt es meistens nur Zucker.

Jetzt, in der Bar am Hafen, war ich als Gutachter gefordert. Ich kippte wie immer etwas zuviel Dietor-Pulver in den Espresso macciato. Mit spitzen Lippen nippte ich den ersten Schluck, behielt dabei die Wertungsrichterin im Blick. Meine Angewohnheit, die Tasse abzusetzen und sie dann mit dem Henkel parallel zum Löffel auszurichten, verschaffte mir die nötige Bedenkzeit für die Antwort, mit der ich die Höchstpunktzahl erreichen wollte : „Mussolini, vier Fußballweltmeister-Titel, Autos, die nur etwas schneller fahren als sie rosten, und drei Mal Berlusconi gewählt. Den Italienern kann man doch vieles verzeihen, bei so einem Caffè."

„Ich weiß, was Sie meinen, eigentlich ist Silvio aber ganz sympathisch", antwortete sie. Nicht das erhoffte Lächeln, nicht einmal ein süffisantes zeigte sich auf ihrem Gesicht. Sie widmete ihre Aufmerksamkeit nun der Eiskarte, die laminiert, aufrecht und doch biegsam, in einem gelben Einzelblattaufsteller, zwischen uns stand.
„Zweifellos. Klar. Warum auch nicht." Hilfe suchend wandte ich mich nach Alessandro um. Doch mein instinktsicherer Berater für das, was ich Oberflächlichkeiten nenne, er jedoch für das Wesentliche hält, hatte sich längst in Richtung Pier aufgemacht. Er holte dort immer die Post von der Autofähre.
Die Unbekannte studierte nun den Bestellbon auf der Untertasse, die der Wirt auf dem Weg nach draußen, wo vier Sonnenschirme aufzuspannen waren, über die Theke geschoben hatte. Die Adresse der Bar, zwei einzeln aufgeführte Posten und eine Endsumme von 1,70. Ihr wiedererwachtes Interesse an einer Fortsetzung unserer, was die Verständigung angeht, nicht gerade vorbildlichen Unterhaltung, muss am spärlichen Informationsgehalt der verfügbaren Lektüre liegen, dachte ich, als sie wieder zu mir aufblickte. Ihre Erklärung widerlegte meine. „Berlusconi war ein Patient meines Mannes. Sie erinnern sich sicher an die ersten Fotos nach der Haartransplantation, als er wie ein Pirat mit einem Kopftuch herumlief." Ich nickte. Immer, wenn es ernst wurde, machte ich Witze. Ironie, nicht Tonangeberei hielt ich für meine Stärke. Ein Irrtum. Dabei hätte mir bei dieser Reaktion doch klar werden müssen, dass ihr nicht daran lag, den Ruf eines korrupten Regierungschefs zu verbessern.
„Verstehe. Und ihr Gatte muss ihm alle drei Wochen die verpflanzte Brusthaarpracht auf dem Kopf nach dem Rollrasenprinzip verdichten. Sicher ein sehr einträglicher…"
Sie unterbrach mich. „Mein Mann ist letztes Jahr gestorben.“ So endete auch mein nächster Versuch, mich als Zehner-Gesprächspartner zu positionieren. Den Konkurrenzkampf mit Eiskarte und Bon hatte ich auf jeden Fall verloren. Auf ihrer Männer-Skala, ich war sicher, so eine gab es, hielt ich jetzt wohl das Schlusslicht.

Die Witwe eines Schönheitschirurgen stand also neben mir. Sofort nutzte ich die neuerliche Pause, um in ihrem Gesicht nach Spuren erledigter ärztlicher Hausaufgaben zu suchen. Vergeblich. Es waren keine zu erkennen. Stattdessen viele Sommersprossen und einige Falten, da, wo sie hingehören: auf der Stirn und am Rande ihrer Augen, die nur für Lichtblicke gemacht schienen. Nasolabial hatte ihr Gatte entweder besonders gut gearbeitet oder gar nicht erst eingreifen wollen. Schmale, so oder so, vielsagende Lippen. Kein Botox-Einsatz.

Der Kaffee war getrunken. Lässig ließen die Carabinieri Münzen auf den Tresen fallen, überprüften den korrekten Sitz ihrer Beretta am weißen Gürtel, klemmten sich die Mützen untern Arm, seufzten vor Diensteifer, verabschiedeten sich fast synchron mit „Ciao Carlo“ und spazierten auf die Promenade. Ein wenig neidisch beobachtete ich die beiden, denn ich hätte mich am liebsten ebenso beiläufig aus der Affäre gezogen, die ja noch gar keine war.

Neben mir wurde zeitgleich der nächste Abschied vorbereitet. Sie holte ihre Handtasche herauf und entdeckte dabei meine geöffnete schwarze Aktentasche, aus der das obere Drittel eines Buches ragte. „Sie beschäftigen sich mit den Roten Brigaden? Dann sind sie nicht zum Vergnügen hier?“
„Kommt auf die Perspektive an“, sagte ich und wagte einen dritten Versuch. „Sie kennen das doch. Wer mit 20 kein Sozialist ist, hat kein Herz. Wer mit 30 noch Sozialist ist, hat keinen Verstand.“
„Habe ich schon mal gehört.“ Sie legte zwei Euro auf die Untertasse, bückte sich, zog ihre Sandalen aus, steckte sie zusammen mit dem Portemonnaie in die Tasche. Dann drehte sie sich um, stellte sich auf ihre Zehenspitzen, gab mir einen Kuss auf die Wange und fragte: „Wollen Sie Ihr Herz verlieren oder den Verstand?“




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