8
Aug
2012

Reise in den Irr-Sinn ODER Um das zu tun, was alle tun. Von Cee Zenett.

Erklärung
Wäre ich weiblichen Geschlechts, so müsste ich – in Anlehnung an jenen um die Jahrhundertwende in Wien ansässigen und mit seinen die eigene gesellschaftliche Rollenfixierung außer acht lassenden Interpretationen geschlechtsspezifischen Verhaltens künftige Generationen in jenem Rollenverhalten festschreibenden Wissenschaftler – fürchten, in meinem folgenden Beitrag zur Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts ein simples Sublimat regredierten Penisneids zu Diskussion zu stellen. Die Tatsache aber, dass ich als Sohn einer in glücklicher Ehe mit einem beruflich erfolgreichen Juristen lebenden gesunden Frau aus bestem Hause zur Welt gekommen bin, hindert – so hoffe ich – die sich um die Deutung meiner Prosa sicherlich redlich bemühende Rezensorenschaft, sich auf die Abwege psychologisierender Textanalyse zu begeben mit Entschlüsselungsversuchen etwa der Art, der Autor habe sich von Kastrationsimpulsen zu befreien versucht, was schließlich eine der Niederschrift gerecht werdende substantielle Vermittlungsleistung ausschlösse.


Einführung
Einlieferung eines vierten Falles von Selbstverstümmelung innerhalb von vier Wochen.
Vorgeschichte (soweit bekannt): Herr P. hat sich zu Beginn der Überfahrt zur Insel Finger abgeschnitten, linke Hand, mit rechter Hand, nacheinander, alle, und hat sie ins Meer geworfen, mit rechter Hand. (Zeugen: die die Möwen fütternden Passagiere, zwischen denen er stand.)
Übliche Behandlungsweise: OP-Begleitung durch eine speziell für diese Art Fälle geschulte Schwester; Schwerpunkt ihrer Tätigkeit im pflegerisch-anteilnehmenden Bereich – indiziert und praktiziert, um der Entstehung von Traumata anlässlich notwendiger Eingriffe vorzubeugen.
Im Falle des Patienten P. – weil: vierter Fall – von der Norm abweichendes Vorgehen:1. Patient wird bei der Aufnahme veranlasst, sich zum Grund seiner Einlieferung zu äußern – s. Notizen, Textteil A.
2. Aufzeichnung der nach Abklingen der Narkose unter Hypnose geäußerten Bemerkungen des Herrn P. (ergänzt von ersten diagnostischen Kommentaren des zuständigen Experten). Der stichwortartige Charakter jenes mit B kenntlich gemachten Textteils ist nicht Folge von Kürzungen unseres Protokollanten.
Wir geben, der wissenschaftlichen Korrektheit zuliebe, die Selbstäußerungen des Patienten im folgenden unverändert zum Abdruck.

A: Ausführungen
Später haben es alle schon vorher gewusst. Und – um ehrlich zu sein – ich auch nicht. Da wir im gleichen Boot saßen gegenüber der Masse der arbeitenden Bevölkerung, war das für mich zumindest keine ungünstige Ausgangslage, um aus mir auszugehn. Freundlich bis heiter, für die Jahreszeit zu kühl, hielten wir uns dicht beieinander zwischen Handgepäck, die großen Stücke werden zu diesem Zeitpunkt außeracht , wurden vom Kai aus hinab in den Frachtraum gelassen. In vielerlei Hinsicht sah ich Verbindliches: die räumliche Enge für viele bietet grundsätzlich Schutz vor Vereinzelung des Einzelnen zwischen den vielen; das in Aussicht stehende Anlegen am für alle gemeinsamen Ziel verband wegen der mehr als vielstündigen Überfahrt uns Reisende stärker miteinander, als etwa die gemeinsame Benutzung eines häufig Station machenden Transportfahrzeugs hätte verbinden können; und schließlich sah ich ein Abbild unserer Gemeinschaft im Flug der Möwen über uns, die – im Wechsel von Kreisen und Nähe und Umeinander und Kreischen und Ferne und Auseinander und ziellosem Gleiten und Nahrung-Erhaschen – sich nur kurz vereinzelt oder in Gruppen niederlassen zur Ruhe auf leicht bewegter See, um wieder aufzufliegen, aus eigenem Antrieb oder, weil ein Genosse, eine Genossin sie reizt, mehr zu ergattern – im Flug der Möwen, die ja das alles dieses auch nur gemeinsam tun.
Meiner momentanen, von Bindungen bestätigenden Gedankengängen erfolgreich begleiteten Stimmung entsprach die allgemeine Großwetterlage. Zuversichtlich harrte ich des nahe in Aussicht stehenden Ablegens, vor mir die Weite der Wasser, in sich zeitlos gleich bleibend, und die Weite eines in sich zeitlich unbestimmten Ferienmonats. Mir war wohl. Von ferne eilten Verspätete herbei, die Mannschaft machte sich an den Tauen zu schaffen, die Brücke wurde eingeholt, das gleichmäßige Tuckern der im Leerlauf gehaltenen Motoren schwoll zum Maschinendrohnen an, das volle Kraft voraus anzeigt, der Bug unseres Schiffes richtete sich vom Land hinweg hinaus, von Westen her war nun der Seewind voll zu spüren, zu spüren war: wir legten ab.
Die noch winkten, ließen es bei zunehmender Distanz, andere verzurrten, des möglichen Seegangs gewärtig, Gepäckstücke, ein Herr und eine Dame entschlossen sich, hineinzugehn in die schon jetzt ganz stickige Kombüse, die Mutter zog dem Kind nun doch den warmen Mantel an, die letzte Gruppe, die beisammenstand, nahm ihre Plätze ein. Eine für jede Abfahrt bezeichnende und mich des Erinnerungswerts wegen in ihrer Gesetzmäßigkeit rührende Geschäftigkeit – sie ebbte ab, und schließlich war es allen angenehm, unbewegt bewegt zu werden. Es folgte ein jeder dem Bedürfnis auszuruhn.
Mit dem Land, das wir hinter uns ließen, ließen wir um ein Weniges auch unsere Vergangenheit zurück. Ich gedachte wie zum letzten Male noch einmal der Entschlüsse, die es mich gekostet hatte, und der Schritte, die notwendig gewesen waren, meinen Plan zu dieser Reise auszuführen. Die Mehrheit der hier Versammelten schien mir geübter in derartigen Unternehmungen und auf das zu erwartende Tief und ich für meine Zeit gerüstet. Über uns begleiteten die Möwen unser Schiff, rechter Hand passierten wir die letzte Landmarkierung, in der Ferne nah beim Horizont sahn wir – nur wenn wir uns bemühten, konnten wir’s erkennen – einen Frachter still vorüberziehn, und Stille war auf unser’m Deck. Ich liebe Stille.
„Eines ist’s, sich durch Musik betören, ein anderes, nach innen still zu hören“, hat ja schon einer gesagt, und es machte nichts, dass ich nicht wusste, wer. Mir machte das nichts.
Als ein Jugendlicher aufstand. Sein Alter war schwer abzuschätzen, und kein Grund lag dafür vor, es zu tun. Er beugte sich hinüber dorthin, wo seine Reisetasche stand, und öffnete und griff hinein. Der Griff hinein. Er braucht etwas zu essen, er hat Hunger, man kennt das: Kaum hat die Fahrt begonnen, lockt es zum Verzehr. Vielleicht liegt ja tatsächlich die letzte Mahlzeit lange zurück, und nur die Umstände des Reiseantritts verhinderten, dass man ’was zu sich nahm, oder – ein Physiologe könnte sicherlich mehr dazu sagen – es mögen nach dem Abklingen der allgemeinen nervlichen Belastungen Signale jener Nervenstränge, die vom Magen kommen, stärker ins Bewusstsein dringen – sei’s, wie es will, es stand der ungestörten Fortsetzung der Fahrt bei gleichbleibender Windstärke und der Fortsetzung meiner Gedankengänge nichts im Wege.
Der Jugendliche aß. Ein paar Möwen umflogen in engeren Kreisen unser Schiff. Obgleich man dieses kennt, ist immer doch auf’s Neue es erstaunlich, wie fein der Instinkt – inzwischen kreisten sieben Möwen – ausgebildet ist bei den Tieren und wie er – der Jugendliche wirft den ersten Brocken – funktioniert. Genaue und geduldige Beobachtung der äußeren Erscheinungen führt zu immer wieder aufschlussreichen und nützlichen Erkenntnissen, mit dem Ergebnis, dass mit wenigen Böen gerechnet und mein Durchhaltevermögen auch in angespannten Situationen gestärkt werden muss.
Zwei junge Frauen, die Einkaufstaschen mit sich führen, so dass man schließen kann, sie leben auf der Insel und haben nur das Nötige besorgt an Land, erheben sich von ihren Plätzen und beginnen, aus einer Plastiktüte, die die eine für sie beide offenhält, von altem Brot hinaufzuwerfen, und sehr geschickt schnappt eine sich eine Einzelheit schon weg im Fluge oder eine andere. Es kreisen viele, jagen sich, man kann das durchaus als ein Schauspiel sehn, und die zwei Kinder stoßen ihre Mutter an, ob sie nicht auch teilnehmen können. Am Rande löst ein Paar entschlossen seine Hände voneinander und sehen zu, von wem von ihnen beiden die Brocken weiter fliegen.
Des Schiffes Fahrt begleitet eine große Menge Möwen, auch die Gruppe verlässt die angestammten Plätze, um wie nun alle andern von der Reling aus sich an der Fütterung der Tiere zu beteiligen. Die im Laufe des Tages an der Küste zunehmenden Störungen stelle ich, binde meinen Schal und halte die Hände in meinen Manteltaschen fest. Ich finde kein Brot in meinen Taschen – das Messer, für die zahllosen Möwen. Alle Möwen sind damit beschäftigt sind alle mit der Fütterung damit. Ich nicht. Ich verändere mich örtlich Möwen kann es zum Einbruch von Veränderungen Messer kommen. Für die Stückelung in große Stücke spricht, dass Möwen auf kleinere Teile, die sie nacheinander in gleichmäßiger Folge dargeboten bekommen, eher ansprechen kann ich die Gruppe, dass sie mir Platz gewähre an der Reling habe ich teil an der Fütterung. Ein Schmerz beim Schnitt durch die Gelenkstelle ist und eine anhaltende Verschlechterung des Zustandes auszuschließen nicht von der Fütterung mich an Möwen die Fingerteile einzeln nacheinander miteinander füttern die Möwen wir.


B: Vor- und Rückführung*
Entschluss das Messer zu nutzen Schärfe der Schneide
Sein Ausgeschlossensein aus … - und nichts verbindet ihn mit den anderen will füttern alle wie füttern kein Futter bin ich habe Schneide von Finger kann stückeln will fütteln wie Möwenkralle hacken und schneiden das Geschnittensein allgemein – seine Vereinzelung innerhalb der Gemeinschaft Schnabel mein Messer von Finger ein Stück im ganzen geschnitten und nutzen
abnutzen von allen in Einzelheiten Wunsch gegen Schmerz gegen
Einzel und Vorsicht oh Muttel liebt Kind und nicht mich Futter gibt
die Komplexitätsreduktion in seiner Erinnerung – Fragwürdigkeit von Zeit allen nichts ab aber einsam gemeinsam das Füttern mein Messer und Finger wie essen die Möwen nicht Messer vom Finger in großem Stück teilen oder in kleinem der einfache große Stück Schmerz oder viele zusätzl. Verwundungen als patholog. Gesetzmäßigkeit – fam. Einflussfaktoren freundlich gesinnt einer Möwe das Kind habe keinen kein Futter mit Vorsicht am Finger einzelnen angesetzt Kleines zu stückeln im Fluge das Leiden, multikausal: dass seine Seele sich verirrt hat mit allen zu füttern vom Schmerz schneide Einzelnes einmal und einmal und einmal kann Schmerz gegen Wunsch unterdrücken wie alle und füttern und Finger um Finger um Möwe zu einzelnen ich Einzelner fütteinzelnen Einweisung in die Akutpsychiatrie als therapeutische Möglichkeit wir.

_________________ *) Verständlicherweise musste eine Interpunktion innerhalb dieses Abschnittes unterbleiben; es kann nicht in unserer Absicht liegen, mittels einer Übersetzung von Sprechpausen in Satzzeichen subjektiven Fehldeutungen Vorschub zu leisten.
Okapi (Gast) - 10. Aug, 11:49

Ein wirklich starker Text - bin froh, dass ich mich von der Erklärung doch nicht abschrecken ließ :) Trotzdem: die Erklärung würde ich entweder entzerren, entschachteln oder woanders hin platzieren. Vielleicht bin ich zu ungeduldig, aber ich gehöre zu den Lesern, die Bücher durchaus weglegen, wenn sie in den ersten Sätzen stolpern und das wäre bei diesem Text viel zu schade. Ab der Einführung ist es ein sehr lesenswerter Text, in all seinem Irr-Sinn. Die ersten zwei Sätze der Ausführungen sind genial!
Freu mich auf mehr.





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