Teilnehmertexte

10
Aug
2012

„Siebzehn“, hat er gesagt. Von Cee Zenett.

Siebzehn. Treffer!
Dass ich so bin, wie ich bin, wegen: „17“.
Die Kinder. Die Liebe. Die Macht.
So genau hätt’s echt nicht sein müssen!
Darum bin ich nicht hier, nicht hergekommen, zum Schreiben.
Darum bin ich am Schreiben. Volltreffer.

Siebzehn. Der Anfang von allem.
Mit allem in Aussicht, was Geschichte wird.
Das Leben. Das Vertrauen. Das Tagebuch.
So’n Medium hat’s schon gebraucht!
Weil ohne vom Erleiden zu schreiben kein Fortkommen war.
Weil mit dem Schreiben vom Erleiden ins Wortkommen war.

Siebzehn. Wenn alles offen, alles Erwarten ist: Warten.
Auf morgen, auf Werden, auf: alles ist gut.
Der Zustand. Der Weg. Der Mann.
So ’ne Begegnung kann’s in sich haben: bewirkt alles, was kommt!
Denn wir treffen uns, mitten ins Herz trifft es uns: einander zu erkennen.
Denn wir treffen uns, schwer trifft es uns: Aug’ in Auge unkenntlich zu sein.


Mein Sein in der Zeit:
Wie bin ich geworden? Wie ist sie geworden.
Ihre Lebenszeit:
Sie ist angekommen? Ich bin angekommen.



Denn weil es so war, als sie siebzehn war – darum das:

Dass sie wissen will.
Dass sie warten kann.
Dass sie weiter denkt.
Dass sie träumt, sie tanzt – tanzte sie damals so leichtfüßig ihm ins Revier, flog sie himmelwärts auf, auf – bis ihr auffiel, beim Schaukeln, dass die Lust beim Schaukeln sich verflüchtigt, wenn sie sich ihrer bewusst und das Ende vom Auf im Ab sichtbar wird. Und sie beim Lust-Schaukeln hinunterfiel, ihm in die
Arme gefallen und nicht in den Arm fallen konnte, als es sie traf mit dem Macht-Erleiden in Liebe, die außer Fassen, Einander-Fassen das Fangen, Einander-Auffangen braucht.
Denn weil es so war, als sie siebzehn und nochmal siebzehn war – darum das:

Dass sie sich sich anvertraut.
Dass sie sich sicher spricht.
Dass sie sich kühl umkreist.
Dass sie sich wild gewinnt – gewann sie damals ihn absichtslos, blondes Haar, gab Mehreres, das ver-
lockte, verband, verbrauchte geschwind sich im Alltag, als sie selbst kaum kein Kind mehr gleich Mutter von Kindern, gleich mütterlich von ihm aufgefasst, der sein Ja-allumfassend-Wort ihr gegeben, bot Verantwortung
nicht, nicht Antworten auf ihre Fragen, verbot das Sagen, so dass ihr sich zu erhalten nur mehr schriftlich gelang – das Unfassbare in Worte zu fassen: dass, was so begann, so enden kann.
Denn weil es so war, als sie siebzehn und nochmal siebzehn und nochmal nochmal siebzehn war – darum das:

Dass sie sich im Tagebuch vor niemandem versteckt.
Dass sie sich beim Schaukeln nicht festhalten muss.
Dass sie sich, sich im Augenblick aufgebend, mag.
Dass sie sich beim Schreiben auf das Morgen freut – hatte sie damals sich auf ihn gefreut ohne Eigensinn, war er von ihr gut aus-, sie, wie sie werden wollte, grade angedacht, war Leben bewegtes Lesebuch erst. Von zu lesenden Worten zu eigenen Wegen, vom Sich-ein-Herz-fassen-Wagen zum Sich-selbst-Begegnen, und das mit dem Lust-Verlust als einen Zustand verstehen, der von Angesicht zu Angesicht wegzubewirken ist. Was daraus geworden ist? – eine Lebenslust, die daher kommt, dass sie von sich und von Siebzehn schreiben kann.

Zu: Siebzehn. Von lealeo.

SIEBZEHN.
Ihre quersumme hat etwas beglückendes.
Ganz gleich, ob sie steht oder liegt, diese acht.
Ein gebilde der anmut.
Arp’sche linien, liegend.
Ich muss sie berühren.
Fühlen. Umfassen.
Diese form, die nach händen heischt.

Unaufhörliches schwingen der acht.
[Der >>>> gesamte Text dort.]

Meine Unbekannte. Von Thomas Kobbe.

„Das ist eindeutig ein Zehner. Perfekt. Mögen sie auch probieren?." Die Frau, die gerade den Inhalt des länglichen Zuckertütchens in die kleine, dickwandige Tasse geschüttet, umgerührt und den ersten Schluck probiert hatte, sah mich an. „Ich habe mir angewöhnt, zu bewerten, was der Barista so fabriziert. Crema, Stärke, Menge, Aroma“, sagte sie. Auf einer Skala von 1 bis 10. „Ich nehme hier jeden Morgen einen. Und immer schmeck er anders.“
Anscheinend gehörte sie wie ich zu der Gruppe der Büfettfrühstücks-Flüchtlinge, denen es zuwider war, ausgerechnet in Italien Filterkaffee zu trinken. Doch hier hatte ich sie noch nie gesehen.

Wie schon so oft war ich an einem Freitagabend am Gardasee angekommen, hatte die Kanzlei erst spät am Nachmittag verlassen und auf der 800 Kilometer langen Strecke nach Torri del Benaco nur einen Tankstopp eingelegt. Es war viertel nach Elf, als ich in der Pension Speranza eintraf. Die Inhaberin hatte mir ein Zimmer im ruhigeren Nebengebäude gegeben. Ich hatte meinen Koffer ausgepackt und das Notebook angeschlossen. Im Postfach fand ich die Mail eines gemobbten Mandanten, der mich um eine Einschätzung des neuesten Friedensangebots seines Arbeitsgebers bat. 20.000 Euro Abfindung für 15 Jahre im Betrieb und ein wohlwollendes Zwischenzeugnis. Ich überlegte nicht lange und schrieb zurück: „Wenn Sie das annehmen, signalisieren Sie nur eines: Arschwackeln auf dem Unternehmerstrich“. Ich formulierte noch einen Entwurf für die Kündigungsschutzklage und legte mich schlafen.

Nach einer kurzen Nacht war ich am Morgen in die kleine Bar am Sporthafen gegangen, die der Skaligerburg gegenüber lag. Ich wollte wieder einmal das kurze Vergnügen genießen, mich neben den Dorfpolizisten und meinem Freund Alessandro, dem Hafenmeister, ein bisschen einheimisch zu fühlen. Statt aber den Carabinieri zu lauschen, die in landestypischer Lautstärke Ursachen des „Disastro italiano“ erörterten, eine 0-3-Niederlage gegen die Niederländer, oder mich mit Alessandro zu unterhalten, der früher als Ausländer-Obmann mit mir im Opel-Betriebsrat gesessen hatte, seit einigen Jahren aber überforderten Freizeitkapitänen beim Anlegen half, musste ich mich plötzlich konzentrieren. Auf eine Frau an meiner Seite.

„Die Geschmacksunterschiede haben mit dem Wetter zu tun“, erklärte ich ihr und sprach von Luftdruck, Feuchtigkeit und Gewitterneigung. „Ich komme seit 17 Jahren hierher. Das spezielle Mikroklima am Gardasee beeinflusst einfach alles“. Das hätte ich mir besser verkniffen, dachte ich plötzlich. Sonst hält sie mich noch für einen migräneanfälligen Erdkundelehrer aus Bremen. Selbst Alessandro hat anfangs gedacht, ich sei mehr mit Klassenarbeiten als mit dem Klassenkampf beschäftigt. Das hatte unserer Freundschaft aber ebenso wenig im Weg gestanden wie mein Talent, mich unangemessen zu kleiden. Alessandro hatte mich bei meinem ersten Besuch in seinem Heimatort mit geradezu patriotischem Eifer darauf hingewiesen, so als wollte er seinen Landsleuten meinen Anblick ersparen. „Compagno, hast du schon mal eine Italiener gesehen, der mit Cordhosen, diese Trekking-Sandalen und einem, wie sagt man, Studiosus-Rucksack, durch die Strassen läuft?" Also war ich dann ihm und seiner Empfehlung gefolgt und hatte mich in der Via Cairoli neu einkleiden lassen. Im Geschäft gleich nebenan gab es auch einen Rucksack-Ersatz aus Kalbsleder. Die schwarze Aktentasche fasst bis heute vieles von dem, was ich zum Arbeiten und zum Leben brauche: die beiden Standardkommentare zum Betriebsverfassungsgesetz, die Umlaufmappe für die Prozessunterlagen, meine Robe, Zigaretten, den Insulin-Pen und einen Süßstoff-Spender, denn in den Cafeterien der Arbeitsgerichte gibt es meistens nur Zucker.

Jetzt, in der Bar am Hafen, war ich als Gutachter gefordert. Ich kippte wie immer etwas zuviel Dietor-Pulver in den Espresso macciato. Mit spitzen Lippen nippte ich den ersten Schluck, behielt dabei die Wertungsrichterin im Blick. Meine Angewohnheit, die Tasse abzusetzen und sie dann mit dem Henkel parallel zum Löffel auszurichten, verschaffte mir die nötige Bedenkzeit für die Antwort, mit der ich die Höchstpunktzahl erreichen wollte : „Mussolini, vier Fußballweltmeister-Titel, Autos, die nur etwas schneller fahren als sie rosten, und drei Mal Berlusconi gewählt. Den Italienern kann man doch vieles verzeihen, bei so einem Caffè."

„Ich weiß, was Sie meinen, eigentlich ist Silvio aber ganz sympathisch", antwortete sie. Nicht das erhoffte Lächeln, nicht einmal ein süffisantes zeigte sich auf ihrem Gesicht. Sie widmete ihre Aufmerksamkeit nun der Eiskarte, die laminiert, aufrecht und doch biegsam, in einem gelben Einzelblattaufsteller, zwischen uns stand.
„Zweifellos. Klar. Warum auch nicht." Hilfe suchend wandte ich mich nach Alessandro um. Doch mein instinktsicherer Berater für das, was ich Oberflächlichkeiten nenne, er jedoch für das Wesentliche hält, hatte sich längst in Richtung Pier aufgemacht. Er holte dort immer die Post von der Autofähre.
Die Unbekannte studierte nun den Bestellbon auf der Untertasse, die der Wirt auf dem Weg nach draußen, wo vier Sonnenschirme aufzuspannen waren, über die Theke geschoben hatte. Die Adresse der Bar, zwei einzeln aufgeführte Posten und eine Endsumme von 1,70. Ihr wiedererwachtes Interesse an einer Fortsetzung unserer, was die Verständigung angeht, nicht gerade vorbildlichen Unterhaltung, muss am spärlichen Informationsgehalt der verfügbaren Lektüre liegen, dachte ich, als sie wieder zu mir aufblickte. Ihre Erklärung widerlegte meine. „Berlusconi war ein Patient meines Mannes. Sie erinnern sich sicher an die ersten Fotos nach der Haartransplantation, als er wie ein Pirat mit einem Kopftuch herumlief." Ich nickte. Immer, wenn es ernst wurde, machte ich Witze. Ironie, nicht Tonangeberei hielt ich für meine Stärke. Ein Irrtum. Dabei hätte mir bei dieser Reaktion doch klar werden müssen, dass ihr nicht daran lag, den Ruf eines korrupten Regierungschefs zu verbessern.
„Verstehe. Und ihr Gatte muss ihm alle drei Wochen die verpflanzte Brusthaarpracht auf dem Kopf nach dem Rollrasenprinzip verdichten. Sicher ein sehr einträglicher…"
Sie unterbrach mich. „Mein Mann ist letztes Jahr gestorben.“ So endete auch mein nächster Versuch, mich als Zehner-Gesprächspartner zu positionieren. Den Konkurrenzkampf mit Eiskarte und Bon hatte ich auf jeden Fall verloren. Auf ihrer Männer-Skala, ich war sicher, so eine gab es, hielt ich jetzt wohl das Schlusslicht.

Die Witwe eines Schönheitschirurgen stand also neben mir. Sofort nutzte ich die neuerliche Pause, um in ihrem Gesicht nach Spuren erledigter ärztlicher Hausaufgaben zu suchen. Vergeblich. Es waren keine zu erkennen. Stattdessen viele Sommersprossen und einige Falten, da, wo sie hingehören: auf der Stirn und am Rande ihrer Augen, die nur für Lichtblicke gemacht schienen. Nasolabial hatte ihr Gatte entweder besonders gut gearbeitet oder gar nicht erst eingreifen wollen. Schmale, so oder so, vielsagende Lippen. Kein Botox-Einsatz.

Der Kaffee war getrunken. Lässig ließen die Carabinieri Münzen auf den Tresen fallen, überprüften den korrekten Sitz ihrer Beretta am weißen Gürtel, klemmten sich die Mützen untern Arm, seufzten vor Diensteifer, verabschiedeten sich fast synchron mit „Ciao Carlo“ und spazierten auf die Promenade. Ein wenig neidisch beobachtete ich die beiden, denn ich hätte mich am liebsten ebenso beiläufig aus der Affäre gezogen, die ja noch gar keine war.

Neben mir wurde zeitgleich der nächste Abschied vorbereitet. Sie holte ihre Handtasche herauf und entdeckte dabei meine geöffnete schwarze Aktentasche, aus der das obere Drittel eines Buches ragte. „Sie beschäftigen sich mit den Roten Brigaden? Dann sind sie nicht zum Vergnügen hier?“
„Kommt auf die Perspektive an“, sagte ich und wagte einen dritten Versuch. „Sie kennen das doch. Wer mit 20 kein Sozialist ist, hat kein Herz. Wer mit 30 noch Sozialist ist, hat keinen Verstand.“
„Habe ich schon mal gehört.“ Sie legte zwei Euro auf die Untertasse, bückte sich, zog ihre Sandalen aus, steckte sie zusammen mit dem Portemonnaie in die Tasche. Dann drehte sie sich um, stellte sich auf ihre Zehenspitzen, gab mir einen Kuss auf die Wange und fragte: „Wollen Sie Ihr Herz verlieren oder den Verstand?“

Siebzehn. Von lealeo.

1

SIEBZEHN.
Ihre quersumme hat etwas beglückendes.
Ganz gleich, ob sie steht oder liegt, diese acht.
Ein gebilde der anmut.
Arp’sche linien, liegend.
Ich muss sie berühren.
Fühlen. Umfassen.
Diese form, die nach händen heischt.

Unaufhörliches schwingen der acht.
Um wieder und wieder zurückzufinden zum anfang.
Den kreis zu schließen.
Zwei kreise zu schließen.
Bauch und kopf.
Gekreuzt gekettet.
Aneinandergekettet.
Herz und hirn.
Du und ich.
Anfang und ende.
Allzeit so fort.

Geschlossen, die acht.
Abgeschlossen gegen das außen.
Das innere hütend.
Den herzschlag.


Schmerz und glück und trauer behütend.
Gesäumt von der linie, der grenzlinie, die
keinen zwischenraum lässt.
Beglückende acht.
Sanduhr.
Schleife.
Schlinge –
Schweif

2

Ich schweife aus.
Ich schweife ab.
Es geht hier nicht um quersummen.
Es geht nicht um ein weiches fließen.
Nicht um das weib.
Es geht hier um die siebzehn.
Nichts weiches, zartes, rund umschließendes.
Kein stetiges beginnen.
Kein anfang, der das ende immer schon weiß.


3

SIEBZEHN.
Störrisch, diese zahl.
Auftakt, der tonlos abfällt.
Der aufbegehrt – und dann nichts mehr will.
Der nach dem schrei flau in sich zusammensackt.
SIEBZEHN.
Schwacher ausklang.
Diese gewöhnlichkeit im abgang !
Und doch, die grafik.
Die zackigen linien.
Die kantigen winkel.
Schrägdach.
Spitzhacke.
Scharfe schläge aufs papier.

1 7
Eine ungrade zahl, beängstigend grade.
Strammstehn.
Die rakete, flügelbeschnitten.
Das linkslastige kreuz.
Ein halbes dach.
Offen. Ungeschützt.
Jeder kann sich darunter herumtreiben.
Schmutzige spuren hinterlassen.
Und glauben, dass er eigenmächtig weiterbauen kann.

SIEBZEHN.
Unvollendete konstruktion.
Mit dem versprechen auf zukunft.
Auf unverhofftes.

4


Siebzehn träume hatte ich mit sechzehn.


5

Ein eigenes zimmer. Groß.
Mit einer glasdecke in vier metern höhe.
Drei ecken sollte es haben.
Vier hatten alle.

Ein langes blaues kleid.
Seidenweich.
Transparent.
Durchschaubar.

Mit dem fallschirm auf dem marktplatz von Machu Picchu landen.

Nachts die hände von karl-heinz unter der decke.
Um finden zu lassen, was sich lohnte.

Eine bambushütte am kongo.
Für mindestens fünf jahre.
Mit einundzwanzig konnte ich dann auch zuhause
tun und lassen, was ich wollte.

Papageienpumps.

Einen vater, der ein kerl war.
Der vorhandene war weder kerl noch kater.

Mit meiner freundin Marlin im wald von Werdohl zelten.

Einen dichter heiraten.
Und fünf wilde jungs bekommen.
Mit töchtern wollte ich nichts zu tun haben.

Einen neuen hula-hoop-reifen.
Der alte war unter die räder gekommen.



Seidenstrümpfe mit zebramuster.

Ein badezimmer mit stahltür, an der
die stimme meiner mutter wie
der ruf in der wüste verhallt.

Vier geheimnisse.
Die ich erst meinen Enkeln verrate.
Damit sie nach meinem tod auf schatzsuche gehn.

Niemals siebzehn werden.
Ich wollte diese scheiss träume nicht und
blond war ich eh schon.


6


Am siebzehnten tag eines trüben und windigen monats kam ich in einer unaufgeräumten gegend zur welt.
Die nacht war halb angebrochen, und sie versprach einen
gewöhnlichen abgang.
Doch zuvor gab es diesen spitzen schrei.
Dieses helle aufbegehren.
SIEBZEHN.
Das unbedingte beharren auf hohem ton.
Das sich lange auf dem trotzigen B festhielt.






7


Als der siebzehnte tag eines trüben und windigen monats zu ende
ging, war es ausgemacht, dass es für jede mehrziffrige zahl auf
der welt immer auch eine quersumme gab.

Meine war die acht.
Sie war weiblich, beglückend und ein gebilde der anmut.

Siebzehn. Von Juba

Da stand ich nun allein auf der Bühne, ein großer Scheinwerfer blendete mich. Unten, im Dunkeln, Gerd Brüdern mit der Jury.
„Was haben Sie vorbereitet? Ja, dann nehmen Sie mal Maria Stuart.“

Sei‘s, ich will mich auch noch diesem unterwerfen,
fahr hin, ohnmächt‘ger Stolz der edlen Seele,
ich will vergessen, wer ich bin und was ich litt....


Tante Liesl hatte nicht gewollt, dass ich Schauspielerin werde. Aber diesmal hatte ich mich durchgesetzt. Die Aufnahmeprüfung an der Otto- Falckenberg- Schule wollte ich unbedingt machen. Nur war sie mitgefahren, die Tante. „Man kann ein junges Mädchen nicht allein nach München fahren lassen.“ Ich musste das Kleid meiner Schwester anziehen. Viel lieber wäre mir meine Dreiviertelhose aus hellgrünem Cordsamt gewesen.
Ja, die Tante hat die Aufnahmeprüfung von diesem Jackenkleid sogar abhängig gemacht.

Ihr seid an Eurem Platz, Lady Maria,
und dankend preis ich meines Gottes Gnade,
der nicht gewollt, dass ich zu Euren Füssen
so liegen sollte, wie Ihr jetzt zu meinen...


Vorher war ich mit der Tante auf der Maximilianstrasse in der „Kulisse“ zum Frühstück gewesen, dort roch es nach Kaffee, nach Croissants, nach Großstadt.
„So, jetzt gehen wir da hin!“ Die Tante nahm meine Hand. Ich schüttelte sie ab, diese Hand: „Ich kann allein gehen.“
Sie wollte auch noch ins Schulgebäude mit hinein. „Nein, bitte nicht. Das mach ich selber.“
„ Also dann bis heut Abend, aber vor Einbruch der Dunkelheit!“

Denkt an den Wechsel alles Menschlichen!
Es leben Götter, die den Hochmut rächen,
verehret, fürchtet sie, die Schrecklichen,
die mich zu Euren Füssen niederwerfen.

.
Ich ging zur Anmeldung. „In Ordnung, Sie sind eingetragen. Sie müssen eine Weile warten,
Sie werden aufgerufen.“ Ich wagte mich in den „Warteraum“. Da waren schon andre junge Leute, fast alle trugen Schwarz, enge Hosen, schmale Pullover, viele rauchten. Sie erzählten einander, an welchen Schulen sie sich schon beworben hatten und wo sie noch hin könnten. Ich wusste nichts zu sagen. Es hätte auch niemand erwartet, dass ich etwas sage, ich hörte zu. Sicher waren alle allein nach München gereist, wahrscheinlich waren auch alle mindestens 18.
Mir schräg gegenüber saß ein Junge, sein Pullover war handgestrickt. Einmal schaute er zu mir herüber. Ich glaube, ich habe gelächelt. Dann nahm er sein Reclamheftchen wieder zur Hand. Hamlet.
.Eine junge Frau schaute herein. „Hoffmann“, sagte sie laut. Er stand auf und ging mit ihr. Jetzt war ich allein. Allein mit den anderen , die es sicher besser machten als ich. Die Luft war stickig, meine Augen begannen zu tränen.

O Gott im Himmel! Steht nicht da,
schroff und unzugänglich wie die Felsenklippe,
die der Strandende vergeblich ringend zu umfassen strebt.
Mein Alles hängt, mein Leben, mein Geschick,
an meiner Worte, meiner Tränen Kraft .
Löst mir das Herz, dass ich das Eure rühre...


Die Frau kam wieder. Ich war an der Reihe. Sie spuckte mir ein Toi Toi Toi über die Schulter. Ich bedankte mich. „Das mach ich jetzt noch mal! Du darfst nicht danke sagen, sonst nützt das nichts.“
Sie schob mich auf die Probebühne.

Wenn Ihr mich anschaut mit dem Eisesblick
schließt sich das Herz mir schaudernd zu,
der Strom der Tränen stockt, und kaltes Grausen
fesselt die Flehensworte mir im Busen an...

.
„Danke, das genügt. Sie hören von uns.“

Vor der Schule stand er, an die Mauer gelehnt.
„Wie war’s?“ fragte er.
“Weiß nicht“, sagte ich leise.
„Ich bin Jens. Jens Hoffmann. Aus Wuppertal. Es wäre schön, die Schule würde uns b e i d e nehmen.“
Ich nickte.

Womit soll ich den Anfang machen?
Wie die Worte klüglich stellen,
dass Sie Euch das Herz ergreifen?
Oh Gott, gib meiner Rede Kraft...

.
.

9
Aug
2012

Wind. Von Katastrophe.

Über den Asphalt sausen Splitter und kleine Kiesel. Die schnellen Schatten der Wolken treiben durch die Gassen der Altstadt und über den Marktplatz. Da sitzen wir.

Die Sonnenschirme aus Segeltuch rütteln an der Verankerung.
Es rechnet in mir, sagt Karin. Das verstehe ich unter ’sechzig’. Es rechnet ganz automatisch.

Sie wirft ihr gesträhntes Haar zurück. Als wäre es noch so lang wie früher.
Hat das Sinn? fragt mein Gehirn. Das, sagt Karin, ist eine neue Erfahrung.

Eine Windbö fegt die Speisekarte vom Nachbartisch und sogar den kleinen Zuckerstreuer.
Karin dreht sich danach um, Stuhl und Körper bewegen sich gemeinsam.

Man hat nichts mehr zu verschenken, sagt sie, während sie sich mir wieder zuwendet.

Auf dem Kopfsteinpflaster des Marktplatzes liegt eine freundliche Leere. Nicht eine einzige Taube pickt da herum. Als wäre alles noch offen. Für allezeit.

Ich schwör dir, sagt sie. Mein Gehirn hat Aufwand und Zeit schon berechnet, noch bevor ich zum Handeln komme.

Kleine Aschepustel vom Nachbartisch legen sich auf die Erdbeeren in meinem Glas.

Kennst du das, fragt sie. Ein Gefühl, als ob du wach wirst an einem Morgen und es regnet. Aber es hört nicht mehr auf. Nie mehr. Ich rechne. Vor und zurück. Mein Wille und dieses Gefühl liegen im Clinch, sagt Karin. Ich komme zu nichts. Ich kann nichts dagegen machen. Dabei geht es mir gut. Objektiv. Das Geld fließt. Die Kollegen sind OK. Ich krieg viel zurück. Niemand will mir was.

Die Kragenschleife ihrer beigefarbenen Seidenbluse fliegt ihr gegen den Mund, als sie nach dem Cappuccino greift. Sie wischt sie weg.

Man hat es nicht mehr im Griff, sagt sie. Zeit, sagt sie. Und macht eine Pause.

Dann erzählt sie. Wie ihre Zeit vergeht, verfliegt, vertrödelt wird.
Wie die Zeit versickert und verödet im Alter.
Erzählt, wie sie sich verkriecht vor der Zeit, immer mehr. Je älter sie wird.
Wie sie in ihrer Wohnung bleibt, damit sie nicht gefunden wird. Nicht gefunden. Von dieser verdammten Zeit.

Sagt: Viel Zeit und immer mehr Zeit ist gleich weniger Zeit.Und mit dem bisschen Übriggebliebenen stehst du dann da. Als Frau. Und fragst immer dasselbe: Wie alt bin ich eigentlich? Du weißt, du bist nicht mehr Siebzehn. Aber du fühlst es nicht. Das ist, sagt Karin, der Grund, warum ich so gerne zurück geh ins letzte Jahrhundert. So ein Jahrhundert, das ist stabil. Das ist irgendwie handfest. Da ist schon der Deckel drauf. Das nimmt dir keiner. Aber du kannst es aufmachen. Wie eine Truhe. Wann immer du willst.
Das sind Schätze
, sagt Karin. Geradezu kosmisch.

Eine Frau setzt sich an den Nebentisch.

Guck dir das an, sagt Karin. Ab irgendwann kriegst du Dellen. Sogar an den Oberarmen. Da geht das nicht mehr, so ein Top ohne Ärmel.

Sie zerpflückt das Papier des Zuckertütchens und nimmt einen Schluck Cappuccino.
Gut, sagt sie.
Schweigeminute.
Zeit, bis sechzig zu zählen.

Ich möchte ein Stein sein im Wind, sagt Karin. Das hab ich gelesen.

Meine Unbekannte . Von Thomas Kobbe.

„Das ist eindeutig ein Zehner. Perfekt. Sie sollten auch einen bestellen." Die Frau, die gerade den Inhalt des länglichen Zuckertütchens in die kleine, dickwandige Tasse geschüttet, umgerührt und den ersten Schluck probiert hatte, sah mich an. „Ich habe mir angewöhnt, zu bewerten, was der Barista so fabriziert. Crema, Stärke, Menge, Aroma. Auf einer Skala von 1 bis 10. Jeden Morgen trinke ich hier einen Espresso. Und immer schmeckt er anders“; sagte sie.
Anscheinend gehörte sie wie ich zu der Gruppe der Büfettfrühstücks-Flüchtlinge, denen es zuwider war, ausgerechnet in Italien Filterkaffee zu trinken. Doch hier in Torri del Benaco hatte ich sie noch nie gesehen.

Wie so oft war ich an einem Freitagabend am Ostufer des Gardasees angekommen, hatte die Kanzlei erst spät am Nachmittag verlassen und auf der 800 Kilometer langen Strecke nur einen Tankstopp eingelegt. Es war viertel nach Elf, genau gesagt 23.17 Uhr, als ich in der Pension Speranza eintraf. Die Inhaberin hatte mir ein Zimmer im ruhigeren Nebengebäude gegeben. Dort hatte ich meinen Koffer ausgepackt und das Notebook angeschlossen. Im Postfach fand ich die Mail eines gemobbten Mandanten, der mich um eine Einschätzung des neuesten Friedensangebots seines Arbeitsgebers bat. 20.000 Euro Abfindung für 15 Jahre im Betrieb und ein wohlwollendes Zwischenzeugnis. Ich überlegte nicht lange und schrieb zurück: „Wenn sie das annehmen, signalisieren sie nur eines: Arschwackeln auf dem Unternehmerstrich“. Ich formulierte noch einen Entwurf für die Kündigungsschutzklage und legte mich schlafen.

Nach einer kurzen Nacht war ich am Morgen in die kleine Bar am Sporthafen gegenüber der Skaligerburg gegangen. Dort wollte ich wieder einmal das kurze Vergnügen genießen, mich neben den Dorfpolizisten und meinem Freund Alessandro, dem Hafenmeister, ein bisschen einheimisch zu fühlen. Doch statt den Carabinieri zu lauschen, die in landestypischer Lautstärke Ursachen des „Disastro Italiano“ erörterten, eine 0-3-Niederlage gegen die Niederländer, oder mich mit Alessandro zu unterhalten, der früher bei Opel in Rüsselsheim als Ausländer-Obmann mit mir im Betriebsrat gesessen hatte, und nun seit einigen Jahren überforderten Freizeitkapitänen beim Anlegen half, musste ich mich plötzlich konzentrieren. Auf eine Frau an meiner Seite.

„Die Geschmacksunterschiede haben vor allem mit dem Wetter zu tun. Luftdruck, Feuchtigkeit, Gewitterneigung. Ich komme seit 17 Jahren hierher“, erklärte ich ihr, „das spezielle Mikroklima am Gardasee beeinflusst einfach alles.“ Den letzten Hinweis hätte ich mir besser verkneifen sollen, dachte ich sofort. Wahrscheinlich hält sie mich jetzt für einen migräneanfälligen Erdkundelehrer aus Bremen. Schließlich hatte selbst Alessandro zunächst gedacht, wie er mir später gestand, ich hätte mehr mit Klassenarbeiten als mit Klassenkampf zu tun. Unserer Freundschaft hatte dieser schlechte Eindruck aber ebenso wenig im Wege gestanden wie mein Talent, mich unangemessen zu kleiden. Alessandro hatte mich bei meinem ersten Besuch in seinem Heimatort mit geradezu patriotischem Eifer darauf hingewiesen, so als wollte er seinen Landsleuten meinen Anblick ersparen. „Compagno, hast du schon mal eine Italiener gesehen, der mit Cordhosen, mit diese Trekking-Sandalen und einem, wie sagt man, Studiosus-Rucksack, durch die Strassen läuft?" Ich war dann ihm und seiner Empfehlung gefolgt und hatte mich bei einem Herrenausstatter in der Via Cairoli neu einkleiden lassen. Im Geschäft nebenan gab es auch gleich noch einen Rucksack-Ersatz aus Kalbsleder. Die schwarze Aktentasche fasst bis heute vieles von dem, was ich zum arbeiten und zum Leben brauche: die beiden Standardkommentare zum Betriebsverfassungsgesetz, den Ordner mit den neuesten BAG-Urteilen, die Umlaufmappe für die Prozessunterlagen, meine Robe, Zeitungen, Zigaretten, den Insulin-Pen und einen Süßstoff-Spender, denn in den Cafeterien der Arbeitsgerichte gibt es oft nur Zucker.

In der Bar am Hafen war ich nun als Gutachter gefordert. Ich kippte wie immer etwas zuviel Dietor-Pulver in den lediglich mit einem Schuss Milch verlängerten Espresso, nahm mit gespitzten Lippen den ersten, heißen Schluck und behielt dabei die Wertungsrichterin im Blick. Meine Angewohnheit, die Tasse abzusetzen und sie dann mit dem Henkel parallel zum Löffel auszurichten, verschaffte mir etwas Bedenkzeit für die Antwort, mit der ich die Höchstpunktzahl erreichen wollte : „Mussolini, vier Fußballweltmeister-Titel, Autos, die nur etwas schneller fahren als sie rosten, und drei Mal Berlusconi gewählt. Den Italienern kann man doch vieles verzeihen, bei so einem Caffe macciato."

„Ich weiß, was sie meinen, aber Silvio ist eigentlich ganz sympathisch", antwortete sie. Nicht das erhoffte Lächeln, nicht einmal ein süffisantes zeigte sich auf ihrem Gesicht. Sie widmete nun ihre Aufmerksamkeit der Eiskarte, die laminiert, aufrecht und doch biegsam, in einem gelben Einzelblattaufsteller, zwischen uns stand.
„Zweifellos. Klar. Warum auch nicht." Hilfe suchend wandte ich mich nach Alessandro um. Doch mein instinktsicherer Berater für das, was ich Oberflächlichkeiten nenne, er jedoch für das Wesentliche hält, hatte sich längst in Richtung Pier aufgemacht, um dort die Post von der Autofähre zu holen.
Inzwischen studierte die Unbekannte den Bestellbon auf der Untertasse, die der Wirt auf dem Weg nach draußen, wo vier Sonnenschirme aufzuspannen waren, auf die Theke geschoben hatte. Die Adresse der Bar, zwei einzeln aufgeführte Posten und eine Endsumme von 1,70. Ihr wiedererwachtes Interesse an einer Fortsetzung unserer, was die Verständigung angeht, nicht gerade beispielhaften Unterhaltung, muss am spärlichen Informationsgehalt der verfügbaren Lektüre liegen, dachte ich, als sie wieder zu mir aufblickte. Ihre Erklärung widerlegte meine. „Berlusconi war der Patient meines Mannes. Sie erinnern ich doch sicher noch an die ersten Fotos nach der Haartransplantation, als er wie ein Pirat mit einem Kopftuch herumlief." Ich nickte. Und wie immer, wenn es ernst wurde, machte ich Witze. Ironie, nicht Tonangeberei hielt ich für meine Stärke. Ein Irrtum. Dabei hätte mir bei dieser Reaktion doch klar werden müssen, dass ihr nicht daran lag, den Ruf eines korrupten Regierungschefs zu verbessern.
„Verstehe. Und ihr Gatte muss ihm alle drei Wochen die verpflanzte Brusthaarpracht auf dem Kopf nach dem Rollrasenprinzip verdichten. Sicher ein sehr einträglicher…"
Sie unterbrach mich. „Mein Mann ist letztes Jahr gestorben.“ So endete auch mein nächster Versuch, mich als Zehner-Gesprächspartner zu positionieren. Den Konkurrenzkampf mit Eiskarte und Bon hatte ich auf jeden Fall verloren. Auf ihrer Männer-Skala, ich war sicher, so eine gab es, hielt ich jetzt wohl das Schlusslicht.

Die Witwe eines Schönheitschirurgen stand also neben mir. Sofort nutzte ich die neuerliche Pause, um in ihrem Gesicht nach Spuren erledigter ärztlicher Hausaufgaben zu suchen. Vergeblich. Narben waren keine zu erkennen. Stattdessen viele Sommersprossen und einige Falten, da, wo sie hingehören: auf der Stirn und am Rande ihrer Augen, die nur für Lichtblicke gemacht schienen. Nasolabial hatte ihr Gatte entweder besonders gut gearbeitet oder gar nicht erst eingreifen wollen. Schmale, so oder so, viel sagende Lippen. Kein Botox-Einsatz.

Der Kaffee war getrunken. Lässig ließen die Carabinieri die nötigen Münzen auf den Tresen fallen, überprüften den korrekten Sitz ihrer Beretta am weißen Gürtel, klemmten sich ihre Mützen unter den Arm, seufzten vor Diensteifer, verabschiedeten sich fast synchron mit „Ciao Carlo“ vom Wirt und spazierten auf die Promenade. Neidisch beobachtete ich die beiden, denn ich hätte mich am liebsten ebenso beiläufig aus der Affäre gezogen, die ja noch gar keine war.
Neben mir wurde zeitgleich der nächste Abgang vorbereitet. Sie hatte ihre Handtasche heraufgeholt und dabei meine geöffnete Aktentasche entdeckt, aus der das obere Drittel eines Buches ragte. „Sie beschäftigen sich mit den Roten Brigaden? Dann sind sie wohl nicht
zum Vergnügen hier?“
„Kommt auf die Perspektive an“, sagte ich und wagte einen dritten Versuch. „Sie kennen das doch. Wer mit 20 kein Sozialist ist, hat kein Herz. Wer mit 30 noch Sozialist ist, hat keinen Verstand.“
„Habe ich schon mal gehört.“ Sie legte zwei Euro auf die Untertasse, bückte sich, zog ihre Sandalen aus, steckte sie zusammen mit dem Portemonnaie in die Tasche. Dann drehte sie sich um, stellte sich auf ihre Zehenspitzen, gab mir einen Kuss auf die Wange und fragte: „Wollen sie ihr Herz oder ihren Verstand verlieren?“

8
Aug
2012

Die Sitzung. Von esbes.

Ich habe, was Sie suchen!
Die Männerstimme war ihr unbekannt, klang aber äußerst enthusiastisch. Vermutlich ein Zahlendreher in der Handy­nummer irgend­einer Kleinanzeige. Sie stand an der Wohnungstür, das phone am Ohr. Warum war sie überhaupt rangegangen?
Wie groß ist es denn?, hörte sie sich sagen.
Das musste an der Sitzung liegen, sonst war sie nicht so, schon gar nicht am frühen Morgen.
Oder seine Antwort war es, die gefüllt werden wollte mit einer Frage; einer Frage, die mehr Raum brauchte als die erlaubten Zeichenzahlen in Kleinanzeigen.
Passt schon!, verkündete er stolz.
Ihr Blick fiel in den Flurspiegel. Warum hatte sie sich schon wieder so langweilig angezogen? Schwarze Hose, weiße Bluse … Pinguin!
Ich kann's Ihnen zuschneiden, mach ich gleich vor Ort.
Eine modische Farbe könnte der Niederkirch kommentieren in der Sitzung, ihm wäre alles recht, um ihre Position zu schwächen. Durch­schaute sie eigentlich als einzige seine Strategie, bei den Kunden schlampige Arbeit abzuliefern, damit später umso mehr Beratungsbedarf entstand? Und damit präsentierte er sich als service­orientiert und flexibel, während ihre strengen Qualitäts­standards, die das Image der angeschlagenen Firma schützten, als verbissen und übertrieben regelgerecht galten. Sie musste dem Niederkirch Grenzen setzen!
Ja, sagte sie. Aber ich wohne im fünften Stock, Altbau, ohne Aufzug.
Das hatte sie sich gegönnt nach der Trennung – viel Himmel! Sven, der nicht Patricks Vater war, aber gemeinsam mit ihr all die Jahre …, er hatte sich eine Andere gesucht, eine, deren Kind noch klein war, ein Mädchen diesmal. Und hatte ihr nichts gesagt davon bis eine Woche vor seinem Auszug. Sein feiger Geruch hing dann überall in der Wohnung, da hatte sie nicht bleiben können.
Ihre neue Wohnung war groß genug, dass Patrick in den Semester­ferien immer zu Besuch kommen konnte, aber nicht dieses Mal, für diese Ferien hatte er an seinem Studienort einen Praktikumsplatz bekommen, das war natürlich schön für ihn.
Fünfter Stock? Ein Zögern. Zweimal muss ich dann mindestens … oder Sie helfen?
Wie alt er wohl war? Von der Stimme zu urteilen vielleicht etwas jünger als sie. Warum immer nur schwarzweiß? Hatte sie denn keine schöne Farbe im Schrank? Und beruflich? Zupackend und bodenständig … vielleicht ein Vermessungsingenieur? Einer, der in kurzen Hosen über ein Feld stapfte, um eine rotweiße Stange in den Boden zu rammen.
Kommt ja auch darauf an, was es kostet, sagte sie.
Ein Spiel. Welche Frage würde ihr offenbaren, was sie nicht suchte? Und lag am Wegrand auch die Frage, die sie zu dem führte, was sie suchte?
Glück war so ein großes Wort. Zufriedenheit fiel ihr ein. Man könnte doch einfach mal zufrieden sein. Sie könnte doch einfach mal zufrieden sein. Sie könnte einfach mal sein.
Und wenn er nun sagen würde komm, wir sind heute Touristen in der eigenen Stadt, meld dich krank, wir mieten uns Segways und kurven durch die Gegend, trinken irgendwo Latte und später Wein und dann haben wir Sex …
Bakterien vermehren sich asexuell, hatte ein Biologe ihr mal erklärt. Sie teilen sich einfach und leben auf diese Weise ewig. Die Sterblichkeit, hatte er gesagt, ist unser Preis für die Einzigartigkeit.
Bloß welche Einzigartigkeit? Früher hatte sie noch auf das Besondere gehofft, als das Kind klein war und die Pläne groß. Jetzt war das Kind groß.
Der Niederkirch erfüllte seine Aufgaben einfach nicht ordentlich und wollte dann für diese Unfähigkeit auch noch extra bezahlt werden. Sie musste an der Sitzung teilnehmen, jemand musste intervenieren. Sie würde sich in der Sitzung zu Wort melden. Der Niederkirch würde sie ansehen. Was würde er sehen? Den erhobenen Zeigefinger, den verkniffenen Mund, die hochgezogenen Schultern?
Ist Verhandlungsbasis, also, eigentlich achtzig, aber auf Verhandlungs­basis.
Das war ihr sympathisch. Die Zukunft? Auf Verhandlungsbasis.
Einmal hatte sie sich frei gefühlt, nein, war frei gewesen. Als sie weggelaufen war von Zuhause. Ohne Ziel. Die Freiheit hatte darin bestanden, nicht schon zu wissen, wie es werden würde oder dass es nichts werden würde oder nichts für sie war oder grundsätzlich nicht ging. Sie hatte diese ungeheure Weite gespürt. Und die Angst. Sie hatte Vertrauen fassen müssen zu sich, um diese Angst auszuhalten. Sie hatte anders geatmet damals, tiefer.
Sie war nur einen Tag weit gekommen. Nicht ohne Abitur, hatten ihre Eltern schlauerweise gesagt, statt ‚nicht minderjährig’, sonst hätte sie es bestimmt im folgenden Jahr wieder probiert. So ging alles seinen geregelten Gang, sie finanzierten ihr sogar eine kleine Wohnung zum Studium.
Und sie wurde weiterhin zwischen dem Geschrei der Eltern und ihren Drohungen hin und her gezogen. Benutzt und überdehnt. Sie hatte versucht, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Ihr Zuhause zu retten, damit es nicht unterging in dem Kriegsgeschrei. Sie war die Soldatin. Aushalten, durchhalten, die scharfen Schreie abfangen, mal dem einen beistehen, mal dem anderen, Deckung suchend. Selber immer tadellos, immer akkurat, immer ordentlich. Bloß keine Angriffsfläche bieten. Anders als ihr Bruder, der sich der Verantwortung charmant entzog, ja, schlimmer noch, der sogar Profit für sich zu schlagen wusste aus diesem Krieg.
Wie der Niederkirch!
Und sie? Immer noch die Soldatin! Immer noch im Krieg.
Achtzig klingt schon gut, sagte sie, während sie die Flügeltür des Kleiderschranks im Flur öffnete. Eine rote Bluse lächelte sie an. Sollen wir uns irgendwo auf einen Latte Macchiato treffen?, fragte sie den – vielleicht – Vermessungs­ingenieur. Ich hab sonst nichts vor …

Reise in den Irr-Sinn ODER Um das zu tun, was alle tun. Von Cee Zenett.

Erklärung
Wäre ich weiblichen Geschlechts, so müsste ich – in Anlehnung an jenen um die Jahrhundertwende in Wien ansässigen und mit seinen die eigene gesellschaftliche Rollenfixierung außer acht lassenden Interpretationen geschlechtsspezifischen Verhaltens künftige Generationen in jenem Rollenverhalten festschreibenden Wissenschaftler – fürchten, in meinem folgenden Beitrag zur Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts ein simples Sublimat regredierten Penisneids zu Diskussion zu stellen. Die Tatsache aber, dass ich als Sohn einer in glücklicher Ehe mit einem beruflich erfolgreichen Juristen lebenden gesunden Frau aus bestem Hause zur Welt gekommen bin, hindert – so hoffe ich – die sich um die Deutung meiner Prosa sicherlich redlich bemühende Rezensorenschaft, sich auf die Abwege psychologisierender Textanalyse zu begeben mit Entschlüsselungsversuchen etwa der Art, der Autor habe sich von Kastrationsimpulsen zu befreien versucht, was schließlich eine der Niederschrift gerecht werdende substantielle Vermittlungsleistung ausschlösse.


Einführung
Einlieferung eines vierten Falles von Selbstverstümmelung innerhalb von vier Wochen.
Vorgeschichte (soweit bekannt): Herr P. hat sich zu Beginn der Überfahrt zur Insel Finger abgeschnitten, linke Hand, mit rechter Hand, nacheinander, alle, und hat sie ins Meer geworfen, mit rechter Hand. (Zeugen: die die Möwen fütternden Passagiere, zwischen denen er stand.)
Übliche Behandlungsweise: OP-Begleitung durch eine speziell für diese Art Fälle geschulte Schwester; Schwerpunkt ihrer Tätigkeit im pflegerisch-anteilnehmenden Bereich – indiziert und praktiziert, um der Entstehung von Traumata anlässlich notwendiger Eingriffe vorzubeugen.
Im Falle des Patienten P. – weil: vierter Fall – von der Norm abweichendes Vorgehen:1. Patient wird bei der Aufnahme veranlasst, sich zum Grund seiner Einlieferung zu äußern – s. Notizen, Textteil A.
2. Aufzeichnung der nach Abklingen der Narkose unter Hypnose geäußerten Bemerkungen des Herrn P. (ergänzt von ersten diagnostischen Kommentaren des zuständigen Experten). Der stichwortartige Charakter jenes mit B kenntlich gemachten Textteils ist nicht Folge von Kürzungen unseres Protokollanten.
Wir geben, der wissenschaftlichen Korrektheit zuliebe, die Selbstäußerungen des Patienten im folgenden unverändert zum Abdruck.

A: Ausführungen
Später haben es alle schon vorher gewusst. Und – um ehrlich zu sein – ich auch nicht. Da wir im gleichen Boot saßen gegenüber der Masse der arbeitenden Bevölkerung, war das für mich zumindest keine ungünstige Ausgangslage, um aus mir auszugehn. Freundlich bis heiter, für die Jahreszeit zu kühl, hielten wir uns dicht beieinander zwischen Handgepäck, die großen Stücke werden zu diesem Zeitpunkt außeracht , wurden vom Kai aus hinab in den Frachtraum gelassen. In vielerlei Hinsicht sah ich Verbindliches: die räumliche Enge für viele bietet grundsätzlich Schutz vor Vereinzelung des Einzelnen zwischen den vielen; das in Aussicht stehende Anlegen am für alle gemeinsamen Ziel verband wegen der mehr als vielstündigen Überfahrt uns Reisende stärker miteinander, als etwa die gemeinsame Benutzung eines häufig Station machenden Transportfahrzeugs hätte verbinden können; und schließlich sah ich ein Abbild unserer Gemeinschaft im Flug der Möwen über uns, die – im Wechsel von Kreisen und Nähe und Umeinander und Kreischen und Ferne und Auseinander und ziellosem Gleiten und Nahrung-Erhaschen – sich nur kurz vereinzelt oder in Gruppen niederlassen zur Ruhe auf leicht bewegter See, um wieder aufzufliegen, aus eigenem Antrieb oder, weil ein Genosse, eine Genossin sie reizt, mehr zu ergattern – im Flug der Möwen, die ja das alles dieses auch nur gemeinsam tun.
Meiner momentanen, von Bindungen bestätigenden Gedankengängen erfolgreich begleiteten Stimmung entsprach die allgemeine Großwetterlage. Zuversichtlich harrte ich des nahe in Aussicht stehenden Ablegens, vor mir die Weite der Wasser, in sich zeitlos gleich bleibend, und die Weite eines in sich zeitlich unbestimmten Ferienmonats. Mir war wohl. Von ferne eilten Verspätete herbei, die Mannschaft machte sich an den Tauen zu schaffen, die Brücke wurde eingeholt, das gleichmäßige Tuckern der im Leerlauf gehaltenen Motoren schwoll zum Maschinendrohnen an, das volle Kraft voraus anzeigt, der Bug unseres Schiffes richtete sich vom Land hinweg hinaus, von Westen her war nun der Seewind voll zu spüren, zu spüren war: wir legten ab.
Die noch winkten, ließen es bei zunehmender Distanz, andere verzurrten, des möglichen Seegangs gewärtig, Gepäckstücke, ein Herr und eine Dame entschlossen sich, hineinzugehn in die schon jetzt ganz stickige Kombüse, die Mutter zog dem Kind nun doch den warmen Mantel an, die letzte Gruppe, die beisammenstand, nahm ihre Plätze ein. Eine für jede Abfahrt bezeichnende und mich des Erinnerungswerts wegen in ihrer Gesetzmäßigkeit rührende Geschäftigkeit – sie ebbte ab, und schließlich war es allen angenehm, unbewegt bewegt zu werden. Es folgte ein jeder dem Bedürfnis auszuruhn.
Mit dem Land, das wir hinter uns ließen, ließen wir um ein Weniges auch unsere Vergangenheit zurück. Ich gedachte wie zum letzten Male noch einmal der Entschlüsse, die es mich gekostet hatte, und der Schritte, die notwendig gewesen waren, meinen Plan zu dieser Reise auszuführen. Die Mehrheit der hier Versammelten schien mir geübter in derartigen Unternehmungen und auf das zu erwartende Tief und ich für meine Zeit gerüstet. Über uns begleiteten die Möwen unser Schiff, rechter Hand passierten wir die letzte Landmarkierung, in der Ferne nah beim Horizont sahn wir – nur wenn wir uns bemühten, konnten wir’s erkennen – einen Frachter still vorüberziehn, und Stille war auf unser’m Deck. Ich liebe Stille.
„Eines ist’s, sich durch Musik betören, ein anderes, nach innen still zu hören“, hat ja schon einer gesagt, und es machte nichts, dass ich nicht wusste, wer. Mir machte das nichts.
Als ein Jugendlicher aufstand. Sein Alter war schwer abzuschätzen, und kein Grund lag dafür vor, es zu tun. Er beugte sich hinüber dorthin, wo seine Reisetasche stand, und öffnete und griff hinein. Der Griff hinein. Er braucht etwas zu essen, er hat Hunger, man kennt das: Kaum hat die Fahrt begonnen, lockt es zum Verzehr. Vielleicht liegt ja tatsächlich die letzte Mahlzeit lange zurück, und nur die Umstände des Reiseantritts verhinderten, dass man ’was zu sich nahm, oder – ein Physiologe könnte sicherlich mehr dazu sagen – es mögen nach dem Abklingen der allgemeinen nervlichen Belastungen Signale jener Nervenstränge, die vom Magen kommen, stärker ins Bewusstsein dringen – sei’s, wie es will, es stand der ungestörten Fortsetzung der Fahrt bei gleichbleibender Windstärke und der Fortsetzung meiner Gedankengänge nichts im Wege.
Der Jugendliche aß. Ein paar Möwen umflogen in engeren Kreisen unser Schiff. Obgleich man dieses kennt, ist immer doch auf’s Neue es erstaunlich, wie fein der Instinkt – inzwischen kreisten sieben Möwen – ausgebildet ist bei den Tieren und wie er – der Jugendliche wirft den ersten Brocken – funktioniert. Genaue und geduldige Beobachtung der äußeren Erscheinungen führt zu immer wieder aufschlussreichen und nützlichen Erkenntnissen, mit dem Ergebnis, dass mit wenigen Böen gerechnet und mein Durchhaltevermögen auch in angespannten Situationen gestärkt werden muss.
Zwei junge Frauen, die Einkaufstaschen mit sich führen, so dass man schließen kann, sie leben auf der Insel und haben nur das Nötige besorgt an Land, erheben sich von ihren Plätzen und beginnen, aus einer Plastiktüte, die die eine für sie beide offenhält, von altem Brot hinaufzuwerfen, und sehr geschickt schnappt eine sich eine Einzelheit schon weg im Fluge oder eine andere. Es kreisen viele, jagen sich, man kann das durchaus als ein Schauspiel sehn, und die zwei Kinder stoßen ihre Mutter an, ob sie nicht auch teilnehmen können. Am Rande löst ein Paar entschlossen seine Hände voneinander und sehen zu, von wem von ihnen beiden die Brocken weiter fliegen.
Des Schiffes Fahrt begleitet eine große Menge Möwen, auch die Gruppe verlässt die angestammten Plätze, um wie nun alle andern von der Reling aus sich an der Fütterung der Tiere zu beteiligen. Die im Laufe des Tages an der Küste zunehmenden Störungen stelle ich, binde meinen Schal und halte die Hände in meinen Manteltaschen fest. Ich finde kein Brot in meinen Taschen – das Messer, für die zahllosen Möwen. Alle Möwen sind damit beschäftigt sind alle mit der Fütterung damit. Ich nicht. Ich verändere mich örtlich Möwen kann es zum Einbruch von Veränderungen Messer kommen. Für die Stückelung in große Stücke spricht, dass Möwen auf kleinere Teile, die sie nacheinander in gleichmäßiger Folge dargeboten bekommen, eher ansprechen kann ich die Gruppe, dass sie mir Platz gewähre an der Reling habe ich teil an der Fütterung. Ein Schmerz beim Schnitt durch die Gelenkstelle ist und eine anhaltende Verschlechterung des Zustandes auszuschließen nicht von der Fütterung mich an Möwen die Fingerteile einzeln nacheinander miteinander füttern die Möwen wir.


B: Vor- und Rückführung*
Entschluss das Messer zu nutzen Schärfe der Schneide
Sein Ausgeschlossensein aus … - und nichts verbindet ihn mit den anderen will füttern alle wie füttern kein Futter bin ich habe Schneide von Finger kann stückeln will fütteln wie Möwenkralle hacken und schneiden das Geschnittensein allgemein – seine Vereinzelung innerhalb der Gemeinschaft Schnabel mein Messer von Finger ein Stück im ganzen geschnitten und nutzen
abnutzen von allen in Einzelheiten Wunsch gegen Schmerz gegen
Einzel und Vorsicht oh Muttel liebt Kind und nicht mich Futter gibt
die Komplexitätsreduktion in seiner Erinnerung – Fragwürdigkeit von Zeit allen nichts ab aber einsam gemeinsam das Füttern mein Messer und Finger wie essen die Möwen nicht Messer vom Finger in großem Stück teilen oder in kleinem der einfache große Stück Schmerz oder viele zusätzl. Verwundungen als patholog. Gesetzmäßigkeit – fam. Einflussfaktoren freundlich gesinnt einer Möwe das Kind habe keinen kein Futter mit Vorsicht am Finger einzelnen angesetzt Kleines zu stückeln im Fluge das Leiden, multikausal: dass seine Seele sich verirrt hat mit allen zu füttern vom Schmerz schneide Einzelnes einmal und einmal und einmal kann Schmerz gegen Wunsch unterdrücken wie alle und füttern und Finger um Finger um Möwe zu einzelnen ich Einzelner fütteinzelnen Einweisung in die Akutpsychiatrie als therapeutische Möglichkeit wir.

_________________ *) Verständlicherweise musste eine Interpunktion innerhalb dieses Abschnittes unterbleiben; es kann nicht in unserer Absicht liegen, mittels einer Übersetzung von Sprechpausen in Satzzeichen subjektiven Fehldeutungen Vorschub zu leisten.

Straßen. Von Ana Camun.

Diese Straße hat Charakter, bestechendes Charisma, wenn man sich bestechen läßt. Von ihrem metallischen Gestänge, steil aufgerichtet, alles überragend. In nachtschwarzer Hergottsfrühe beginnen sie, Linien in den Himmel zu ziehen. Begleitet vom durchdringenden Quietschen ihrer Laufkatzen und glitzernd zu Boden fallenden Regen- oder Tautropfen. Hin und her schwenken sie ihre verschiedensten Ladungen Stunde für Stunde, geben erbarmungslos Takt und Tempo an, um erst am Abend wieder zum Stillstand zu kommen. Baukrahne. Unverwüstlich, unaufhaltsam. Immer neuen Stahl und Beton aufrichtend, solange noch ein Fleckchen Boden frei ist.
Den stählernen Gerüsten vis a vis der Park. 10.000 qm Grund, von Ruth angelegt und gepflegt. Ihr kleines Holzhäuschen, am noch kleineren See, mittendrin mit blauen Fenstern, ewig blind vom aufgewirbelten Staub. Kreisende Fischreiher, längst gewöhnt an alle Ungetüme, umrunden das Wasser, einer stibietzt gerade den schweren Koi. In der Sonne blinken die Rotorblätter des Windanzeigers auf dem Hallendach des Zimmermanns im Lärm der Druckluft unterstützten Bremsen allzu vieler LKWs von Metall- bis Holzhandel. Hier wohnen weder Schwarzbefrackte noch Weißbekittelte, nicht einmal Schuster oder Frisöre.
Nur unser Gebäude verschwindend klein in dem Getümmel trotz seiner Werkhalle. Und ich, in meiner eleganten Etage hoch oben, lasse den Blick voll verzweifelter Begeisterung schweifen über den östlichen Sonnenhimmel bis tief hinten ins Teufelsmoor. Warte auf die Stille am Feierabend oder am Wochenende, einzig vom heiseren Fasanenschrei unterbrochen.
Es ist häßlich. Es ist laut. Es strapaziert meinen Blutdruck. Es hat seinen Reiz. Ich bleibe.

Ich bleibe? Mein alter, nie eingehaltener Vorsatz. An seine Brechung bin ich ebenso gewöhnt wie an den immer neuen Versuch durchzuhalten. Dieser dauert noch. Noch will ich nicht aufgeben. Mühsam hole ich meinen Blick zurück ins Zimmer, auf den Tisch, auf die Buchseite:

Paragraph 17 STGB:
Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht verhindern konnte.

Ich kaue den Satz mehrfach durch. Davon habe ich noch nie gehört. Sowas gibt es? Ich wittere eine Chance, suche wiedermal nach jenem Strohhalm. Immerhin habe ich fast ein Jahrzehnt in diesem Ortsteil, ja, in dieser Straße zugebracht. Zuletzt unachtsam und prallvergnügt. Jetzt wieder eine neue Katastrophe, der alten ähnlich und unausweichlich selbst verschuldet. Und jetzt? Ich muss unbedingt Harald treffen.

Als ich jung war, fürchtete ich jung sterben zu müssen. Ich meine sehr jung, mit höchstens sechs oder acht. Das war nicht verwunderlich, lungerte der Tod doch in jeder Straße herum und an jeder Häuserecke. Männer mit einem oder auch gar keinem Arm, mit fehlenden Beinen oder gar Augen, Männer, die ausschließlich dafür und davon lebten, ihre Gräuel zu schildern, wo immer sich eine Möglichkeit bot. Die Fenster der Wohnungen wurden am Abend mit Pappe oder Holzplatten vernagelt weil alles Glas dahin war, kein Stein auf dem anderen, keine Ordnung sichtbar. Wer noch lebte machte sich meistens Sorgen und nur manchmal ein Essen.
Das war die Heimstraße. Man hörte den eisigen Wind zwischen den Baracken sausen oder das Plätschern des Regens in der Zisterne. Mein Feind war Puscha. Walter Palubitzki. Zwei Jahre stärker als ich. Seine Augen hatten immer einen verhungerten Ausdruck. Obwohl er derjenige mit der üppigsten Verpflegung war. Die Familie wurde vom Roten Kreuz unterstützt, weil der Vater im Feld geblieben war. Ich hatte ja das Glück, nur meine Mutter war draufgegangen. Puscha trug meistens einen in Silberpapier eingewickelten Camembert in der Hosentasche. Falls er mal Hunger bekäme. Manchmal war der Kläse ziemlich verbeult, dann ging er damit großzügig um, biß ab, nahm es von seinen Zähnen und reichte es weiter. Deshalb hatte er viele Freunde.
Dass sie die Hunde hinter mir her hetzten, war ich gewohnt. Es gab Tage, da konnte ich so tun, als machte es mir nichts aus. Dann gab es Tage, an denen ich angstvoll versuchte, den Viechern zu entkommen. Ziemlich aussichtslos, mit meinen zwei kurzen Beinen, jeder von ihnen hatte doch mindestens sechs. Rasend schleuderten sie ihren widerlichen Schweiß von den Lefzen.
Dann hatten sich die Jungs für mich was Neues einfallen lassen. Nach dieser Katastophe an der Tafel, ich wußte nicht, ob es Pferd hieß oder Ferd, danach warteten sie hinter der Scheune mit frisch gepotterten Aalen auf mich, die sich in wilden Zuckungen um ihre Handgelenke ringelten. Einer nach dem anderen flog mir entgegen, mir nach, traf nicht oder doch, ringelte, glitschte, blieb kleben, rutschte bis auf meinen nackten Fuß. Ich strampelte, der Aal zappelte, die Jungs klatschten sich auf die Schenkel. Grüner Schleim, grüner Geruch ließen mich grüne Kotze erbrechen.
Das alles dauerte wahrscheinlich nicht länger als zwei Minuten, oder drei. Oder auch nur anderthalb.
Es ging über Jahre. Bis ich ihm eines seiner Verbrechen vor die Füße schleuderte, wie wild geworden. Vor seiner Mutter. Ohne zu heulen. Das war das Entscheidende. Wenn du heulst, gewinnst du gar nichts. Das halbe Dorf stand drumherum, auf der Straße, vor Puschas Baracke. Auch Kaplan Niemöller, der über die Trauerrede von Puschas Bruder am kommenden Tag sprechen wollte.
Ich weiß nicht, was mich gestochen hatte. Es war der Moment, der Augenblick, der mich anstiftete. Ich schrie laut, war nicht zimperlich. Der da, ich zeigte mit allen fünf Fingern auf Puscha, der hat mich festgebunden und ich musste gucken was er gemacht hat in seiner Hose und nachher nicht mehr da hat er es rausgeholt und vor mir rumgetanzt und ich musste das anfassen und er wollte mit mir das Wort mit F machen.
Ich sah glasklar, fühle noch heute das Schweigen. Die Starre. Puscha war zusammengesackt. Der Kaplan riss die Augenbrauen hoch. Einige Leute traten von einem Fuß auf den anderen. Niemand ging. Niemand sprach. Dann endlich bewegte sich Puschas Mutter auf ihren Sohn zu, packte ihn am Ellenbogen und zog ihn wortlos hinter ihre Barackentür. Seine Mutter war sehr katholisch.
Puscha peinigte mich von nun an heimlich. Seine Augen blickten nicht mehr hungrig sondern wölfisch.
Als der nächste Herbst kam, wohnten wir in den neuen Häusern der Seidlungsgessellschaft für Ausgebombte. Ich brauchte Puscha nie mehr zu begegnen und vergaß mit den Jahren das bedrohliche gelbe Blinzeln, das, wie ich viel später lernte, die Farbe aller Beleidigten ist.




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