9
Aug
2012

Meine Unbekannte . Von Thomas Kobbe.

„Das ist eindeutig ein Zehner. Perfekt. Sie sollten auch einen bestellen." Die Frau, die gerade den Inhalt des länglichen Zuckertütchens in die kleine, dickwandige Tasse geschüttet, umgerührt und den ersten Schluck probiert hatte, sah mich an. „Ich habe mir angewöhnt, zu bewerten, was der Barista so fabriziert. Crema, Stärke, Menge, Aroma. Auf einer Skala von 1 bis 10. Jeden Morgen trinke ich hier einen Espresso. Und immer schmeckt er anders“; sagte sie.
Anscheinend gehörte sie wie ich zu der Gruppe der Büfettfrühstücks-Flüchtlinge, denen es zuwider war, ausgerechnet in Italien Filterkaffee zu trinken. Doch hier in Torri del Benaco hatte ich sie noch nie gesehen.

Wie so oft war ich an einem Freitagabend am Ostufer des Gardasees angekommen, hatte die Kanzlei erst spät am Nachmittag verlassen und auf der 800 Kilometer langen Strecke nur einen Tankstopp eingelegt. Es war viertel nach Elf, genau gesagt 23.17 Uhr, als ich in der Pension Speranza eintraf. Die Inhaberin hatte mir ein Zimmer im ruhigeren Nebengebäude gegeben. Dort hatte ich meinen Koffer ausgepackt und das Notebook angeschlossen. Im Postfach fand ich die Mail eines gemobbten Mandanten, der mich um eine Einschätzung des neuesten Friedensangebots seines Arbeitsgebers bat. 20.000 Euro Abfindung für 15 Jahre im Betrieb und ein wohlwollendes Zwischenzeugnis. Ich überlegte nicht lange und schrieb zurück: „Wenn sie das annehmen, signalisieren sie nur eines: Arschwackeln auf dem Unternehmerstrich“. Ich formulierte noch einen Entwurf für die Kündigungsschutzklage und legte mich schlafen.

Nach einer kurzen Nacht war ich am Morgen in die kleine Bar am Sporthafen gegenüber der Skaligerburg gegangen. Dort wollte ich wieder einmal das kurze Vergnügen genießen, mich neben den Dorfpolizisten und meinem Freund Alessandro, dem Hafenmeister, ein bisschen einheimisch zu fühlen. Doch statt den Carabinieri zu lauschen, die in landestypischer Lautstärke Ursachen des „Disastro Italiano“ erörterten, eine 0-3-Niederlage gegen die Niederländer, oder mich mit Alessandro zu unterhalten, der früher bei Opel in Rüsselsheim als Ausländer-Obmann mit mir im Betriebsrat gesessen hatte, und nun seit einigen Jahren überforderten Freizeitkapitänen beim Anlegen half, musste ich mich plötzlich konzentrieren. Auf eine Frau an meiner Seite.

„Die Geschmacksunterschiede haben vor allem mit dem Wetter zu tun. Luftdruck, Feuchtigkeit, Gewitterneigung. Ich komme seit 17 Jahren hierher“, erklärte ich ihr, „das spezielle Mikroklima am Gardasee beeinflusst einfach alles.“ Den letzten Hinweis hätte ich mir besser verkneifen sollen, dachte ich sofort. Wahrscheinlich hält sie mich jetzt für einen migräneanfälligen Erdkundelehrer aus Bremen. Schließlich hatte selbst Alessandro zunächst gedacht, wie er mir später gestand, ich hätte mehr mit Klassenarbeiten als mit Klassenkampf zu tun. Unserer Freundschaft hatte dieser schlechte Eindruck aber ebenso wenig im Wege gestanden wie mein Talent, mich unangemessen zu kleiden. Alessandro hatte mich bei meinem ersten Besuch in seinem Heimatort mit geradezu patriotischem Eifer darauf hingewiesen, so als wollte er seinen Landsleuten meinen Anblick ersparen. „Compagno, hast du schon mal eine Italiener gesehen, der mit Cordhosen, mit diese Trekking-Sandalen und einem, wie sagt man, Studiosus-Rucksack, durch die Strassen läuft?" Ich war dann ihm und seiner Empfehlung gefolgt und hatte mich bei einem Herrenausstatter in der Via Cairoli neu einkleiden lassen. Im Geschäft nebenan gab es auch gleich noch einen Rucksack-Ersatz aus Kalbsleder. Die schwarze Aktentasche fasst bis heute vieles von dem, was ich zum arbeiten und zum Leben brauche: die beiden Standardkommentare zum Betriebsverfassungsgesetz, den Ordner mit den neuesten BAG-Urteilen, die Umlaufmappe für die Prozessunterlagen, meine Robe, Zeitungen, Zigaretten, den Insulin-Pen und einen Süßstoff-Spender, denn in den Cafeterien der Arbeitsgerichte gibt es oft nur Zucker.

In der Bar am Hafen war ich nun als Gutachter gefordert. Ich kippte wie immer etwas zuviel Dietor-Pulver in den lediglich mit einem Schuss Milch verlängerten Espresso, nahm mit gespitzten Lippen den ersten, heißen Schluck und behielt dabei die Wertungsrichterin im Blick. Meine Angewohnheit, die Tasse abzusetzen und sie dann mit dem Henkel parallel zum Löffel auszurichten, verschaffte mir etwas Bedenkzeit für die Antwort, mit der ich die Höchstpunktzahl erreichen wollte : „Mussolini, vier Fußballweltmeister-Titel, Autos, die nur etwas schneller fahren als sie rosten, und drei Mal Berlusconi gewählt. Den Italienern kann man doch vieles verzeihen, bei so einem Caffe macciato."

„Ich weiß, was sie meinen, aber Silvio ist eigentlich ganz sympathisch", antwortete sie. Nicht das erhoffte Lächeln, nicht einmal ein süffisantes zeigte sich auf ihrem Gesicht. Sie widmete nun ihre Aufmerksamkeit der Eiskarte, die laminiert, aufrecht und doch biegsam, in einem gelben Einzelblattaufsteller, zwischen uns stand.
„Zweifellos. Klar. Warum auch nicht." Hilfe suchend wandte ich mich nach Alessandro um. Doch mein instinktsicherer Berater für das, was ich Oberflächlichkeiten nenne, er jedoch für das Wesentliche hält, hatte sich längst in Richtung Pier aufgemacht, um dort die Post von der Autofähre zu holen.
Inzwischen studierte die Unbekannte den Bestellbon auf der Untertasse, die der Wirt auf dem Weg nach draußen, wo vier Sonnenschirme aufzuspannen waren, auf die Theke geschoben hatte. Die Adresse der Bar, zwei einzeln aufgeführte Posten und eine Endsumme von 1,70. Ihr wiedererwachtes Interesse an einer Fortsetzung unserer, was die Verständigung angeht, nicht gerade beispielhaften Unterhaltung, muss am spärlichen Informationsgehalt der verfügbaren Lektüre liegen, dachte ich, als sie wieder zu mir aufblickte. Ihre Erklärung widerlegte meine. „Berlusconi war der Patient meines Mannes. Sie erinnern ich doch sicher noch an die ersten Fotos nach der Haartransplantation, als er wie ein Pirat mit einem Kopftuch herumlief." Ich nickte. Und wie immer, wenn es ernst wurde, machte ich Witze. Ironie, nicht Tonangeberei hielt ich für meine Stärke. Ein Irrtum. Dabei hätte mir bei dieser Reaktion doch klar werden müssen, dass ihr nicht daran lag, den Ruf eines korrupten Regierungschefs zu verbessern.
„Verstehe. Und ihr Gatte muss ihm alle drei Wochen die verpflanzte Brusthaarpracht auf dem Kopf nach dem Rollrasenprinzip verdichten. Sicher ein sehr einträglicher…"
Sie unterbrach mich. „Mein Mann ist letztes Jahr gestorben.“ So endete auch mein nächster Versuch, mich als Zehner-Gesprächspartner zu positionieren. Den Konkurrenzkampf mit Eiskarte und Bon hatte ich auf jeden Fall verloren. Auf ihrer Männer-Skala, ich war sicher, so eine gab es, hielt ich jetzt wohl das Schlusslicht.

Die Witwe eines Schönheitschirurgen stand also neben mir. Sofort nutzte ich die neuerliche Pause, um in ihrem Gesicht nach Spuren erledigter ärztlicher Hausaufgaben zu suchen. Vergeblich. Narben waren keine zu erkennen. Stattdessen viele Sommersprossen und einige Falten, da, wo sie hingehören: auf der Stirn und am Rande ihrer Augen, die nur für Lichtblicke gemacht schienen. Nasolabial hatte ihr Gatte entweder besonders gut gearbeitet oder gar nicht erst eingreifen wollen. Schmale, so oder so, viel sagende Lippen. Kein Botox-Einsatz.

Der Kaffee war getrunken. Lässig ließen die Carabinieri die nötigen Münzen auf den Tresen fallen, überprüften den korrekten Sitz ihrer Beretta am weißen Gürtel, klemmten sich ihre Mützen unter den Arm, seufzten vor Diensteifer, verabschiedeten sich fast synchron mit „Ciao Carlo“ vom Wirt und spazierten auf die Promenade. Neidisch beobachtete ich die beiden, denn ich hätte mich am liebsten ebenso beiläufig aus der Affäre gezogen, die ja noch gar keine war.
Neben mir wurde zeitgleich der nächste Abgang vorbereitet. Sie hatte ihre Handtasche heraufgeholt und dabei meine geöffnete Aktentasche entdeckt, aus der das obere Drittel eines Buches ragte. „Sie beschäftigen sich mit den Roten Brigaden? Dann sind sie wohl nicht
zum Vergnügen hier?“
„Kommt auf die Perspektive an“, sagte ich und wagte einen dritten Versuch. „Sie kennen das doch. Wer mit 20 kein Sozialist ist, hat kein Herz. Wer mit 30 noch Sozialist ist, hat keinen Verstand.“
„Habe ich schon mal gehört.“ Sie legte zwei Euro auf die Untertasse, bückte sich, zog ihre Sandalen aus, steckte sie zusammen mit dem Portemonnaie in die Tasche. Dann drehte sie sich um, stellte sich auf ihre Zehenspitzen, gab mir einen Kuss auf die Wange und fragte: „Wollen sie ihr Herz oder ihren Verstand verlieren?“




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