9
Aug
2012

Wind. Von Katastrophe.

Über den Asphalt sausen Splitter und kleine Kiesel. Die schnellen Schatten der Wolken treiben durch die Gassen der Altstadt und über den Marktplatz. Da sitzen wir.

Die Sonnenschirme aus Segeltuch rütteln an der Verankerung.
Es rechnet in mir, sagt Karin. Das verstehe ich unter ’sechzig’. Es rechnet ganz automatisch.

Sie wirft ihr gesträhntes Haar zurück. Als wäre es noch so lang wie früher.
Hat das Sinn? fragt mein Gehirn. Das, sagt Karin, ist eine neue Erfahrung.

Eine Windbö fegt die Speisekarte vom Nachbartisch und sogar den kleinen Zuckerstreuer.
Karin dreht sich danach um, Stuhl und Körper bewegen sich gemeinsam.

Man hat nichts mehr zu verschenken, sagt sie, während sie sich mir wieder zuwendet.

Auf dem Kopfsteinpflaster des Marktplatzes liegt eine freundliche Leere. Nicht eine einzige Taube pickt da herum. Als wäre alles noch offen. Für allezeit.

Ich schwör dir, sagt sie. Mein Gehirn hat Aufwand und Zeit schon berechnet, noch bevor ich zum Handeln komme.

Kleine Aschepustel vom Nachbartisch legen sich auf die Erdbeeren in meinem Glas.

Kennst du das, fragt sie. Ein Gefühl, als ob du wach wirst an einem Morgen und es regnet. Aber es hört nicht mehr auf. Nie mehr. Ich rechne. Vor und zurück. Mein Wille und dieses Gefühl liegen im Clinch, sagt Karin. Ich komme zu nichts. Ich kann nichts dagegen machen. Dabei geht es mir gut. Objektiv. Das Geld fließt. Die Kollegen sind OK. Ich krieg viel zurück. Niemand will mir was.

Die Kragenschleife ihrer beigefarbenen Seidenbluse fliegt ihr gegen den Mund, als sie nach dem Cappuccino greift. Sie wischt sie weg.

Man hat es nicht mehr im Griff, sagt sie. Zeit, sagt sie. Und macht eine Pause.

Dann erzählt sie. Wie ihre Zeit vergeht, verfliegt, vertrödelt wird.
Wie die Zeit versickert und verödet im Alter.
Erzählt, wie sie sich verkriecht vor der Zeit, immer mehr. Je älter sie wird.
Wie sie in ihrer Wohnung bleibt, damit sie nicht gefunden wird. Nicht gefunden. Von dieser verdammten Zeit.

Sagt: Viel Zeit und immer mehr Zeit ist gleich weniger Zeit.Und mit dem bisschen Übriggebliebenen stehst du dann da. Als Frau. Und fragst immer dasselbe: Wie alt bin ich eigentlich? Du weißt, du bist nicht mehr Siebzehn. Aber du fühlst es nicht. Das ist, sagt Karin, der Grund, warum ich so gerne zurück geh ins letzte Jahrhundert. So ein Jahrhundert, das ist stabil. Das ist irgendwie handfest. Da ist schon der Deckel drauf. Das nimmt dir keiner. Aber du kannst es aufmachen. Wie eine Truhe. Wann immer du willst.
Das sind Schätze
, sagt Karin. Geradezu kosmisch.

Eine Frau setzt sich an den Nebentisch.

Guck dir das an, sagt Karin. Ab irgendwann kriegst du Dellen. Sogar an den Oberarmen. Da geht das nicht mehr, so ein Top ohne Ärmel.

Sie zerpflückt das Papier des Zuckertütchens und nimmt einen Schluck Cappuccino.
Gut, sagt sie.
Schweigeminute.
Zeit, bis sechzig zu zählen.

Ich möchte ein Stein sein im Wind, sagt Karin. Das hab ich gelesen.




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