8
Aug
2012

Straßen. Von Ana Camun.

Diese Straße hat Charakter, bestechendes Charisma, wenn man sich bestechen läßt. Von ihrem metallischen Gestänge, steil aufgerichtet, alles überragend. In nachtschwarzer Hergottsfrühe beginnen sie, Linien in den Himmel zu ziehen. Begleitet vom durchdringenden Quietschen ihrer Laufkatzen und glitzernd zu Boden fallenden Regen- oder Tautropfen. Hin und her schwenken sie ihre verschiedensten Ladungen Stunde für Stunde, geben erbarmungslos Takt und Tempo an, um erst am Abend wieder zum Stillstand zu kommen. Baukrahne. Unverwüstlich, unaufhaltsam. Immer neuen Stahl und Beton aufrichtend, solange noch ein Fleckchen Boden frei ist.
Den stählernen Gerüsten vis a vis der Park. 10.000 qm Grund, von Ruth angelegt und gepflegt. Ihr kleines Holzhäuschen, am noch kleineren See, mittendrin mit blauen Fenstern, ewig blind vom aufgewirbelten Staub. Kreisende Fischreiher, längst gewöhnt an alle Ungetüme, umrunden das Wasser, einer stibietzt gerade den schweren Koi. In der Sonne blinken die Rotorblätter des Windanzeigers auf dem Hallendach des Zimmermanns im Lärm der Druckluft unterstützten Bremsen allzu vieler LKWs von Metall- bis Holzhandel. Hier wohnen weder Schwarzbefrackte noch Weißbekittelte, nicht einmal Schuster oder Frisöre.
Nur unser Gebäude verschwindend klein in dem Getümmel trotz seiner Werkhalle. Und ich, in meiner eleganten Etage hoch oben, lasse den Blick voll verzweifelter Begeisterung schweifen über den östlichen Sonnenhimmel bis tief hinten ins Teufelsmoor. Warte auf die Stille am Feierabend oder am Wochenende, einzig vom heiseren Fasanenschrei unterbrochen.
Es ist häßlich. Es ist laut. Es strapaziert meinen Blutdruck. Es hat seinen Reiz. Ich bleibe.

Ich bleibe? Mein alter, nie eingehaltener Vorsatz. An seine Brechung bin ich ebenso gewöhnt wie an den immer neuen Versuch durchzuhalten. Dieser dauert noch. Noch will ich nicht aufgeben. Mühsam hole ich meinen Blick zurück ins Zimmer, auf den Tisch, auf die Buchseite:

Paragraph 17 STGB:
Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht verhindern konnte.

Ich kaue den Satz mehrfach durch. Davon habe ich noch nie gehört. Sowas gibt es? Ich wittere eine Chance, suche wiedermal nach jenem Strohhalm. Immerhin habe ich fast ein Jahrzehnt in diesem Ortsteil, ja, in dieser Straße zugebracht. Zuletzt unachtsam und prallvergnügt. Jetzt wieder eine neue Katastrophe, der alten ähnlich und unausweichlich selbst verschuldet. Und jetzt? Ich muss unbedingt Harald treffen.

Als ich jung war, fürchtete ich jung sterben zu müssen. Ich meine sehr jung, mit höchstens sechs oder acht. Das war nicht verwunderlich, lungerte der Tod doch in jeder Straße herum und an jeder Häuserecke. Männer mit einem oder auch gar keinem Arm, mit fehlenden Beinen oder gar Augen, Männer, die ausschließlich dafür und davon lebten, ihre Gräuel zu schildern, wo immer sich eine Möglichkeit bot. Die Fenster der Wohnungen wurden am Abend mit Pappe oder Holzplatten vernagelt weil alles Glas dahin war, kein Stein auf dem anderen, keine Ordnung sichtbar. Wer noch lebte machte sich meistens Sorgen und nur manchmal ein Essen.
Das war die Heimstraße. Man hörte den eisigen Wind zwischen den Baracken sausen oder das Plätschern des Regens in der Zisterne. Mein Feind war Puscha. Walter Palubitzki. Zwei Jahre stärker als ich. Seine Augen hatten immer einen verhungerten Ausdruck. Obwohl er derjenige mit der üppigsten Verpflegung war. Die Familie wurde vom Roten Kreuz unterstützt, weil der Vater im Feld geblieben war. Ich hatte ja das Glück, nur meine Mutter war draufgegangen. Puscha trug meistens einen in Silberpapier eingewickelten Camembert in der Hosentasche. Falls er mal Hunger bekäme. Manchmal war der Kläse ziemlich verbeult, dann ging er damit großzügig um, biß ab, nahm es von seinen Zähnen und reichte es weiter. Deshalb hatte er viele Freunde.
Dass sie die Hunde hinter mir her hetzten, war ich gewohnt. Es gab Tage, da konnte ich so tun, als machte es mir nichts aus. Dann gab es Tage, an denen ich angstvoll versuchte, den Viechern zu entkommen. Ziemlich aussichtslos, mit meinen zwei kurzen Beinen, jeder von ihnen hatte doch mindestens sechs. Rasend schleuderten sie ihren widerlichen Schweiß von den Lefzen.
Dann hatten sich die Jungs für mich was Neues einfallen lassen. Nach dieser Katastophe an der Tafel, ich wußte nicht, ob es Pferd hieß oder Ferd, danach warteten sie hinter der Scheune mit frisch gepotterten Aalen auf mich, die sich in wilden Zuckungen um ihre Handgelenke ringelten. Einer nach dem anderen flog mir entgegen, mir nach, traf nicht oder doch, ringelte, glitschte, blieb kleben, rutschte bis auf meinen nackten Fuß. Ich strampelte, der Aal zappelte, die Jungs klatschten sich auf die Schenkel. Grüner Schleim, grüner Geruch ließen mich grüne Kotze erbrechen.
Das alles dauerte wahrscheinlich nicht länger als zwei Minuten, oder drei. Oder auch nur anderthalb.
Es ging über Jahre. Bis ich ihm eines seiner Verbrechen vor die Füße schleuderte, wie wild geworden. Vor seiner Mutter. Ohne zu heulen. Das war das Entscheidende. Wenn du heulst, gewinnst du gar nichts. Das halbe Dorf stand drumherum, auf der Straße, vor Puschas Baracke. Auch Kaplan Niemöller, der über die Trauerrede von Puschas Bruder am kommenden Tag sprechen wollte.
Ich weiß nicht, was mich gestochen hatte. Es war der Moment, der Augenblick, der mich anstiftete. Ich schrie laut, war nicht zimperlich. Der da, ich zeigte mit allen fünf Fingern auf Puscha, der hat mich festgebunden und ich musste gucken was er gemacht hat in seiner Hose und nachher nicht mehr da hat er es rausgeholt und vor mir rumgetanzt und ich musste das anfassen und er wollte mit mir das Wort mit F machen.
Ich sah glasklar, fühle noch heute das Schweigen. Die Starre. Puscha war zusammengesackt. Der Kaplan riss die Augenbrauen hoch. Einige Leute traten von einem Fuß auf den anderen. Niemand ging. Niemand sprach. Dann endlich bewegte sich Puschas Mutter auf ihren Sohn zu, packte ihn am Ellenbogen und zog ihn wortlos hinter ihre Barackentür. Seine Mutter war sehr katholisch.
Puscha peinigte mich von nun an heimlich. Seine Augen blickten nicht mehr hungrig sondern wölfisch.
Als der nächste Herbst kam, wohnten wir in den neuen Häusern der Seidlungsgessellschaft für Ausgebombte. Ich brauchte Puscha nie mehr zu begegnen und vergaß mit den Jahren das bedrohliche gelbe Blinzeln, das, wie ich viel später lernte, die Farbe aller Beleidigten ist.




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