8
Aug
2012

Die Sitzung. Von esbes.

Ich habe, was Sie suchen!
Die Männerstimme war ihr unbekannt, klang aber äußerst enthusiastisch. Vermutlich ein Zahlendreher in der Handy­nummer irgend­einer Kleinanzeige. Sie stand an der Wohnungstür, das phone am Ohr. Warum war sie überhaupt rangegangen?
Wie groß ist es denn?, hörte sie sich sagen.
Das musste an der Sitzung liegen, sonst war sie nicht so, schon gar nicht am frühen Morgen.
Oder seine Antwort war es, die gefüllt werden wollte mit einer Frage; einer Frage, die mehr Raum brauchte als die erlaubten Zeichenzahlen in Kleinanzeigen.
Passt schon!, verkündete er stolz.
Ihr Blick fiel in den Flurspiegel. Warum hatte sie sich schon wieder so langweilig angezogen? Schwarze Hose, weiße Bluse … Pinguin!
Ich kann's Ihnen zuschneiden, mach ich gleich vor Ort.
Eine modische Farbe könnte der Niederkirch kommentieren in der Sitzung, ihm wäre alles recht, um ihre Position zu schwächen. Durch­schaute sie eigentlich als einzige seine Strategie, bei den Kunden schlampige Arbeit abzuliefern, damit später umso mehr Beratungsbedarf entstand? Und damit präsentierte er sich als service­orientiert und flexibel, während ihre strengen Qualitäts­standards, die das Image der angeschlagenen Firma schützten, als verbissen und übertrieben regelgerecht galten. Sie musste dem Niederkirch Grenzen setzen!
Ja, sagte sie. Aber ich wohne im fünften Stock, Altbau, ohne Aufzug.
Das hatte sie sich gegönnt nach der Trennung – viel Himmel! Sven, der nicht Patricks Vater war, aber gemeinsam mit ihr all die Jahre …, er hatte sich eine Andere gesucht, eine, deren Kind noch klein war, ein Mädchen diesmal. Und hatte ihr nichts gesagt davon bis eine Woche vor seinem Auszug. Sein feiger Geruch hing dann überall in der Wohnung, da hatte sie nicht bleiben können.
Ihre neue Wohnung war groß genug, dass Patrick in den Semester­ferien immer zu Besuch kommen konnte, aber nicht dieses Mal, für diese Ferien hatte er an seinem Studienort einen Praktikumsplatz bekommen, das war natürlich schön für ihn.
Fünfter Stock? Ein Zögern. Zweimal muss ich dann mindestens … oder Sie helfen?
Wie alt er wohl war? Von der Stimme zu urteilen vielleicht etwas jünger als sie. Warum immer nur schwarzweiß? Hatte sie denn keine schöne Farbe im Schrank? Und beruflich? Zupackend und bodenständig … vielleicht ein Vermessungsingenieur? Einer, der in kurzen Hosen über ein Feld stapfte, um eine rotweiße Stange in den Boden zu rammen.
Kommt ja auch darauf an, was es kostet, sagte sie.
Ein Spiel. Welche Frage würde ihr offenbaren, was sie nicht suchte? Und lag am Wegrand auch die Frage, die sie zu dem führte, was sie suchte?
Glück war so ein großes Wort. Zufriedenheit fiel ihr ein. Man könnte doch einfach mal zufrieden sein. Sie könnte doch einfach mal zufrieden sein. Sie könnte einfach mal sein.
Und wenn er nun sagen würde komm, wir sind heute Touristen in der eigenen Stadt, meld dich krank, wir mieten uns Segways und kurven durch die Gegend, trinken irgendwo Latte und später Wein und dann haben wir Sex …
Bakterien vermehren sich asexuell, hatte ein Biologe ihr mal erklärt. Sie teilen sich einfach und leben auf diese Weise ewig. Die Sterblichkeit, hatte er gesagt, ist unser Preis für die Einzigartigkeit.
Bloß welche Einzigartigkeit? Früher hatte sie noch auf das Besondere gehofft, als das Kind klein war und die Pläne groß. Jetzt war das Kind groß.
Der Niederkirch erfüllte seine Aufgaben einfach nicht ordentlich und wollte dann für diese Unfähigkeit auch noch extra bezahlt werden. Sie musste an der Sitzung teilnehmen, jemand musste intervenieren. Sie würde sich in der Sitzung zu Wort melden. Der Niederkirch würde sie ansehen. Was würde er sehen? Den erhobenen Zeigefinger, den verkniffenen Mund, die hochgezogenen Schultern?
Ist Verhandlungsbasis, also, eigentlich achtzig, aber auf Verhandlungs­basis.
Das war ihr sympathisch. Die Zukunft? Auf Verhandlungsbasis.
Einmal hatte sie sich frei gefühlt, nein, war frei gewesen. Als sie weggelaufen war von Zuhause. Ohne Ziel. Die Freiheit hatte darin bestanden, nicht schon zu wissen, wie es werden würde oder dass es nichts werden würde oder nichts für sie war oder grundsätzlich nicht ging. Sie hatte diese ungeheure Weite gespürt. Und die Angst. Sie hatte Vertrauen fassen müssen zu sich, um diese Angst auszuhalten. Sie hatte anders geatmet damals, tiefer.
Sie war nur einen Tag weit gekommen. Nicht ohne Abitur, hatten ihre Eltern schlauerweise gesagt, statt ‚nicht minderjährig’, sonst hätte sie es bestimmt im folgenden Jahr wieder probiert. So ging alles seinen geregelten Gang, sie finanzierten ihr sogar eine kleine Wohnung zum Studium.
Und sie wurde weiterhin zwischen dem Geschrei der Eltern und ihren Drohungen hin und her gezogen. Benutzt und überdehnt. Sie hatte versucht, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Ihr Zuhause zu retten, damit es nicht unterging in dem Kriegsgeschrei. Sie war die Soldatin. Aushalten, durchhalten, die scharfen Schreie abfangen, mal dem einen beistehen, mal dem anderen, Deckung suchend. Selber immer tadellos, immer akkurat, immer ordentlich. Bloß keine Angriffsfläche bieten. Anders als ihr Bruder, der sich der Verantwortung charmant entzog, ja, schlimmer noch, der sogar Profit für sich zu schlagen wusste aus diesem Krieg.
Wie der Niederkirch!
Und sie? Immer noch die Soldatin! Immer noch im Krieg.
Achtzig klingt schon gut, sagte sie, während sie die Flügeltür des Kleiderschranks im Flur öffnete. Eine rote Bluse lächelte sie an. Sollen wir uns irgendwo auf einen Latte Macchiato treffen?, fragte sie den – vielleicht – Vermessungs­ingenieur. Ich hab sonst nichts vor …




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