8
Aug
2012

Siebzehn. Von Katastrophe.

Einen Negerkuss? Danke. Nein. Bloß nicht. Ich will keinen Neger. Und keinen ekligen schwarzen Kuss.
Mich küsst ein Prinz. Mit wehenden Haaren auf einem stolzen Ross.
Nur küsst mich kein Prinz. Mich küsst Hans-Jürgen.
Nur küsst Hans-Jürgen mich nicht.
Er ist groß. Ich bin noch klein.

Hans-Jürgens Haar glänzt. Es riecht nach Motorenöl. In den Rillen von seinen Nägeln ist Wagenschmiere, ganz schwarz.
Ich sitz auf den Stufen vorm Haus. Ich guck auf den Trecker im Hof oder die Gummistiefel mit Lehm und die Pantüffeln von Onkel Sven gleich neben der Treppe.

Drinnen tackelt das Pendel der Uhr. Jetzt knallt der Kuckuck die Tür zu, fünf Mal. Plötzlich klingelt es laut und die Hühner schreien. Sie rasen los, sie fallen übereinander und rasen weiter, quer übern Hof. Denn da kommt das schwarze Rad mit Hans-Jürgen als blauem Monteur.

Na denn, min lille, ruft er und springt noch im Fahren vom Sattel und lacht. Er hat die schwarze Schmiere auch im Gesicht.
Wie viele sind noch nach? fragt er und zieht seine Stiefel aus an der Treppe.
Bloß fünf, sag ich. Wir zählen die Tage, die ich noch da bleiben darf.

Dann hebt er mich hoch. Er riecht nach rostigem Eisen und Zwiebeln. Er trägt mich ins Haus und ins Wohnzimmer. Er schmeißt mich aufs Sofa, er kitzelt mir mit den Haaren den Hals, ruft: Wie geht’s, tante kiks ! denn kiks ist ein Keks und jetzt kommt ein Spiel.

Er steigt auf den Stuhl und holt eine Dose vom Schrank. Über dem Schrank hängt ein großes Bild. Ein Hirtenknabe liegt unter blauem Himmel im Gras, den einen Arm quer über seinem Gesicht. So kann er nichts sehn. Und schlafen. Hans-Jürgen sucht zwischen den Vanillekränzen nach den Schokobaisers- braune, bröckelige, längliche Stäbchen:
Nu kuck, tante kiks. Du dein Ende, ich meins, und jetzt los!
Meine Spucke löst das Keksende auf. Die kleinen Schaumblasen saugen sich fest, sie beißen in die Zunge. Hans-Jürgens Gesicht ist dicht dran und weit weg. Ich kann es nicht richtig sehn. Nie schaffen wir’s bis zur Mitte. Jedes Mal bricht auf einer Seite ein Stück ab. Schluss- aus! Wer hat verloren?

Dann macht er sich im Sessel lang. Er kuckt, ob die Socken ein Loch haben. Dann breitet er die Arme aus. Komm! Ich nehm Anlauf und hüpf auf seinen Schoß. Aua, ruft er. Dafür bist du doch viel zu groß! Er zieht mich an den Haaren und rollt mich über die Beine ein Stück nach unten. Nu sollstu aber Haue haben, tante kiks!
Ich kreische und er hört auf und flüstert: Nicht dass Ina und Sven dich hörn!

Ich zieh den Reißverschluss von seinem Overall auf und seh dünne schwarzgekringelte Haare. Ich puste von oben Luft rein. Ich hör, dass er lacht. Er macht GRRRR , seine Zähne drücken kleine Stempel in meinen Nacken. Ich schieb meinen Kopf am Reißverschluss vorbei unter den Overall. Schieb mich vor bis zur Achselhöhle. Bohr mich ganz fest in die Kuhle. Lieg wie in einer kleinen Kammer, Gardine zu, alles warm. Alles weit weg. Ich rühr mich nicht. Beide sind wir ganz still. Alles dunkel und jetzt riecht es nach schwarzem Tang, ich glaube, ich treibe im Wasser, es schaukelt ein bisschen. Plötzlich krieg ich keine Luft mehr und tauch auf.
He, tante kiks, ruft er, packt mich, legt mich quer und haut mir eins hinten drauf.

Dann geht er sich waschen, hinten im dunklen Verschlag, gleich neben den Kühen. Ich trödel rum, kuck Kuhaugen an, spring auf dem Stroh rum, schnapp nach den Fliegen, dann gibt es Essen.

Hans-Jürgen schneidet das Hefebrot dick, baut weiße Türme auf meinem Teller und schiebt glänzenden gelben Käse dazwischen. Für Gäste das Beste, lacht er.
Nu lass man, sagt Tante Ina und kuckt. Nu lass sie man lieber. So klein wie sie iss. Kuck du auf dein Zeugs! Und hält seinen Arm fest.
Onkel Sven schmiert viel weiche Butter auf sein Brot und streut Salz drauf. Er kuckt nicht hoch.

In Hans-Jürgens Gesicht sind rote Punkte. Die glänzen vom Waschen und werden ganz dick. Später, wenn sie geplatzt sind, machen sie Narben. Die Narben sind schön- kleine Straßen, auf denen mein Finger rumfährt, wenn Onkel Sven und Tante Ina vorm Fernseher schlafen und er mich rüberzieht in seinen Sessel. Ich lieg in der Schulterkuhle, ein Nest ganz für mich. Darf ich? sag ich. BI-TTE!
Er schiebt mich ein bisschen hoch, damit meine Finger drankommen. Dann nehme ich einen von den Punkten zwischen die Zeigefinger und drücke, bis was rausspritzt. Eins, zähl ich. Zwei - drei. Ich weiß schon: Hier kommt bloß ein weißes Würmchen, aber der ist schon gelb und ganz fett. Das platzt wie eine kleine Blase, spritzt richtig raus. Meistens kommt Blut mit. Wenn es viel Blut ist, zieht Hans-Jürgen sein Taschentuch raus. Tut weh? sag ich. Ja, sagt er. Er zieht mich noch mehr ran. Ich kann nicht aufhörn, ich drück schneller, mehr, sieben - acht - neun, ich krieg keine Luft, dreizehn – vierzehn - ich schwitze und: Siebzehn, ruft Hans-Jürgen. Mach Schluss, Tante Kiks! Mehr soll nicht sein!
Ich sacke zurück, rutsch wieder in die Schulterkuhle und hör ihn flüstern in seiner Sprache: Lille pige. Min lille pige*. Und manchmal: Jeg elsker dig**.

Seine Stimme baut für uns ein heimliches Haus. Onkel Sven schnarcht. Tante Ina schläft.

*Mein kleines Mädchen
** Ich hab dich lieb





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