6
Aug
2012

der tod und ophelia

I
wer hält denn heut noch den damen die wagentür auf, kinderchen, meine kinderchen, wer tut das, sagt ophelia und vergisst das fragzeichen. sie legt sich die hände über die augen. ophelias haut ist an den händen alt, ist alt an den handgelenken, an den fingern, im gesicht – überall ist ophelias haut alt. aufschneiden könnte man ihre haut und sie ophelia abziehen, ophelia ausziehen und die haut falten und über einen wäscheständer hängen.
ophelias haut ist alt. ophelia nicht.

wer schreibt denn heut noch briefe, kinderchen, meine kinderchen, wer tut das, sagt ophelia und schiebt die hände auf dem lehnsessel unter die oberschenkel; wegen des kreuzes, sagt sie, und wegen des steißbeins, sagt sie. ophelia hat viele warums und deshalbs und manchmal, wenn wir ophelia besuchen und sagen wir besuchen ophelia und nur das sagen dürfen, weil ortsangaben wie altersheim ein stückchen tod sind, sagt ophelia, dann hat ophelia auch viele eswareinmals und lächelt viel und das lächeln sieht aus wie frisch aus dem trockner gezogene wäsche.

in der ersten schublade des nachtkästchens hat ophelia bonbons, sie kratzen im mund, sie murmeln und passen zu ophelias stimme, die zurückspult und irgendwo im spulen hängen bleibt, wenn sie von früher erzählt. ganz langsam knotet ophelia sich ein damals und ein alsichnochsojungwarwieihr um den hals, bis jedes wort ein strick ist.
ophelia hat uns gern, damit sie jemanden zum zuhören hat, sie merkt sich unsere gesichter und namen nicht.

II
kinderchen, meine kinderchen, sagt ophelia. früher, da sind wir immer ausgegangen, tanzen sind wir gegangen mit kurzen kleidern und hohen schuhen, dass die männer uns hinterhergeschaut haben und eigentlich war’s nur der tom, der mich interessiert hat, der mit seinen blauen augen, der hatte einen blick wie man sich paris vorstellt, sagt ophelia und ihr blick sieht nicht aus wie paris, sondern wie eine vase, die am tischrand beinahe kippt.

ophelia sagt und erzählt und dazwischen seufzt sie oft. wir lachen viel, damit sich ophelia lustig fühlen kann, fragen viel, damit sich ophelia interessant finden kann und wir sind da, damit sich ophelia jünger fühlen kann. ophelia, wir sagen das oft, es ist ein schöner name, er passt nicht zu der frau, die in ihrem zimmer auf und ab und aufabaufab geht und die teppichfransen mit grobzackigen
kämmen in eine richtung streift. ophelia; das passt zu gespitzten roten lippen, kichernden sektgläsern,
verrutschenden wangenküssen. ophelia klingt nach theatervorhängen und verbeugen und schulterblicken.
ich war nie beim theater, nein, kinder, sagt ophelia und lacht, sie hat das lachen verlernt, es fällt ihr ungeschickt von den lippen, fällt auf den teppich, der den dumpfen ton verschluckt. wir nicken, aber das ändert nichts, für uns hat ophelia immer schon theater gespielt, nur die hauptrollen. gesungen hat sie, bei der oper war sie. so ist das, so ist ophelia. für uns.

III
wenn ophelia vom zimmer zum aufenthaltsraum läuft, sieht es aus, wie wenn eine aubergine von gabeln getragen werden würde. ophelias atemzüge sind vetrocknet; wenn ophelia schläft, sagt einer von uns, der tod kommt. er kriecht in den körper und er kriecht wieder hinaus, das geht eine zeitlang gut und wenn die zeitlang vorbei ist, ist der körper ein hohlkörper und der tod kriecht hinein und legt sich schlafen und wir nicken und halten ophelias hände, streichen ihr über die wangen, die haut dort sieht aus wie versehentlich liegengelassen.

wenn wir da sind abends und ophelia schläft, fühlt sich der moment an, wie in der kirche die autoschlüssel fallen zu lassen, die man die ganze zeit schon in den händen knetet. wir reden über den tod, weil das dazugehört; so wie wir auch oft über füße reden. weil einer von uns weiß, man redet zu selten über füße, das ist nicht richtig, immerhin hören wir dort auf. wir reden also über den tod und wir reden auch über ophelia und dazwischen legen wir unds und davor einige
falls und wenns und uns. ophelias atem ist ein bus, der über schlaglöcher fährt und wenn sie erzählt, zerrt sie ihre stimme über die geschichten, bis sie einreißt. ophelia wird vielleicht bald sterben, wir wissen das. wir sind da, damit nur ophelias körper in diesem weißen bett in diesem weißen zimmer stirbt und ophelia nicht.

IV
ophelia erzählt nur jene geschichten, bei denen wir uns für sie schämen, sie mag unsere roten wangen, sie streckt die hände danach aus, tomatenkinder, sagt sie und wir lachen, damit ophelia auch lachen kann. ophelia erzählt und wir sitzen am bettrand, sagen, ja, ophelia, und ziehen ihr die bettdecke bis zum kinn, damit unsere hände irgendetwas tun, wenn ophelia von toms händen erzählt, die seinem mund so ähnlich sind, weich und forsch. wir zupfen die leintücher zurecht, stecken sie am bett fest, damit wir uns nicht anschauen müssen, wenn ophelia von toms mund spricht, von toms mund zwischen ihren beinen. wir schämen uns. vielleicht für uns, aber vor allem für ophelia, wie sie da in falten geworfen
daliegt. was wurde aus tom? fragt einer von uns und ophelia sagt: jan. jan? fragen wir und ophelia sagt: jan und anton und bernd. und ophelia erzählt davon, wie janantonbernd nackt auf dem küchentisch sitzt und wie sie in unterwäsche das geschirr vom letzten abend schrubbt und janantonbernd lacht. in ophelias erzählungen sind alle menschen schön.

V
es ist sonntag und ophelias mund voll mehl. einer von uns hat sie nachmittags mit einem kamm auf dem teppichboden gefunden. herzinfarkt, sagt der jemand und wir nicken. der tod. ophelia. dazwischen ein und.

das fühlt sich an, wie in der kirche die autoschlüssel fallen zu lassen, die man die ganze zeit schon in den händen knetet. das fühlt sich an wie eingeatmet haben und zittern und warten und warten, bis man ausatmen darf. und das ist richtig so.

ophelia, sagen wir und legen uns fuß an fuß auf den teppichboden.
kaspar lampart - 6. Aug, 20:04

Altmodisch genug finde ich: Prosa soll erzählen, Geschichten erzählen. Ich möchte dabei zuhören können. Aber eben auch einmal weghören, meinen eigenen Geschichten nachhängen, mich an meine eigenen Geschichten erinnern und dann wieder eingeholt werden, von der Geschichte, die da erzählt wird. Gerade eine solche Geschichte ist "der tod und ophelia", eine Geschichte die Platz lässt für die eigenen Erinnerungen und die eigene Angst vor dem Sterben. Wie man diese Ophelia zu lieben beginnt in ihrer weit entfernten Welt, und dann ist sie tot, den Mund voll Mehl, und der Leser denkt an Gilgamesch und den Bannkreis des Mehls um die Ezaqiqu. Was für eine barmherzige, pralle, widersprüchliche Geschichte.
Auch der Ton in dem sie erzählt, buchstäblich gesprochen wird, das ist alles so sehr bildlich dass ich eigentlich schon fast jedes weitere Bild, das benutzt wird als überflüssig empfinde. Dieses "ganz langsam knotet ophelia sich ein damals und ein alsichnochsojungwarwieihr um den hals, bis jedes wort ein strick ist" - Verzeihung, ist das wirklich nötig? Die widersprüchliche, auflehnende Verzweiflung der Ophelia, kommt sie nicht schon lange deutlich genug heraus und wird dann im Verlauf der Geschichte noch deutlicher, auch ohne diese Strick-Metapher? Oder das Lachen, das auf den Teppich fällt - ich denke, jede Metapher die nicht zugleich auch ganz und gar notwendig ist (die Metaphern über ophelias Haut, über die Autoschlüssel in der Kirche) - jede nicht ganz notwendige Metapher nimmt den notwendigen Metaphern etwas von ihrer Wucht. "Ein Vergleich muss präzise sein wie eine Schublehre und aromatisch wie Dill". Und notwendig wie ein Fallbeil. Noch weniger notwendig sind diese Art von indirekten Vergleichen ("…fühlt sich der moment an wie…"). Aber was für ein glücklicher Griff- der Name Ophelia, ein Versprechen, das eingelöst wird. Vielleicht lohnt es, auch über den letzten Satz nachzudenken. Und ob er notwendig ist.

Ob nun eine Metapher an einer Stelle zu viel, mir hat vor allem das sich immer selbst der eigenen Sprache bewusst sein gut gefallen. Wie zum Beispiel am Ende die Überschrift als Wortbruchstücke erneut aufgegriffen wird: der tod. ophelia. dazwischen ein und. Hätte mir als unkonventionellerer Titel auch gefallen. Ein klasse Text.
Bei den bisher zwei Texten, die ich gelesen habe, obwohl ja niemand nach meinem Lesen und etwaigen Äußerungen verlangt hat, ist mir nur aufgefallen, dass es oft um die Darstellung von inneren Bildern geht und relativ wenig Handlung entsteht. Aber aus eigener Erfahrung weiß ich, dass mir selbst eine Handlung in Gang zu bringen schwer fällt. Innere Bilder findet man sehr viel einfacher.





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